Özil geht, der Hambacher Forst bleibt, Chemnitz schreckt auf – 2018 war turbulent. Auch für uns: watson.de startete im März. Auf einige Geschichten sind wir seitdem besonders stolz. Wie auf diese hier:
Juni 2014 im nordrhein-westfälischen Herford: Bei einer Verkehrskontrolle besprüht ein Polizist einen Mann mit Pfefferspray. Die Gewalt seitens des Beamten war weder begründet, noch legal. Das entscheidet ein Gericht fast vier Jahre später. Der Beamte wird unter anderem wegen gefährlicher Körperverletzung im Amt zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. (Neue Westfälische)
Die Gewalt durch den Polizisten ist kein Einzelfall – die Verurteilung hingegen schon. Menschenrechtsaktivisten und Kriminologen wie Tobias Singelnstein bemängeln immer wieder, dass Strafverfahren gegen Polizisten in Deutschland zu oft im Sande verlaufen.
Der Bochumer Kriminologieprofessor leitet eine neue Studie zu diesem Thema. Der Forscher will Licht ins Dunkelfeld der rechtswidrigen Polizeigewalt bringen. Dafür will er die Opfer von Polizeigewalt
online befragen. (Jeder, der glaubt, von unrechtmäßiger Polizeigewalt
betroffen gewesen zu sein, kann hier auf deutsch, englisch, französisch und arabisch an der Umfrage teilnehmen.)
Im watson-Interview erklärt er, wieso in Deutschland so wenige Polizisten verurteilt werden.
watson: Sind gewalttätige Polizisten bedauerliche Einzelfälle, oder gibt es einen Fehler im System?
Tobias Singelnstein: Man kann nicht sagen, dass die ganze Polizei gleichermaßen
davon betroffen ist, aber ich glaube schon, dass die Polizei an dieser Stelle
ein strukturelles Problem hat. Sie ist in bestimmten Situationen befugt, Gewalt
einzusetzen. Und sie tut das in ihrem Berufsalltag auch jeden Tag hundertfach,
tausendfach.
Dabei kommt es zwangsläufig zu Fehlern?
Es wäre sehr verwunderlich, wenn es dabei nicht zu Grenzüberschreitungen und Missbräuchen kommen würde – denn wo Menschen
arbeiten, werden Fehler gemacht. Bei der Polizei haben diese jedoch gravierende
Folgen und bedürfen deshalb einer besonderen Beachtung und Aufarbeitung.
Der Trend geht
momentan zu verschärften Polizeigesetzen und "Null-Toleranz-Politik". Hat das
Auswirkungen auf die Zahl rechtswidriger Übergriffe durch Polizisten?
Das ist pauschal schwer zu sagen. Aber natürlich kann es
ein problematisches Signal sein, wenn die Innenpolitik sagt, dass die Polizei
besonders robust vorgehen oder besonders schnell und konsequent einschreiten
soll. Das kann dazu führen, dass Polizeibeamte sich dazu berufen fühlen, früher
einzuschreiten als es erforderlich und damit auch rechtlich zulässig wäre.
Es gibt jedes Jahr
zahlreiche Anzeigen gegen Polizisten, etwa wegen Körperverletzung. Verurteilt
werden deswegen diese Beamten aber nur selten...
Dafür gibt es eine ganze Menge Gründe. In einem Teil der
Fälle wird es so sein, dass der Gewalteinsatz der Polizei noch von den
rechtlichen Befugnissen gedeckt war und die Anzeigeerstatter falsch einschätzen,
was der jeweilige Beamte eigentlich darf. Das macht meiner Einschätzung nach aber nicht
den Großteil der Fälle aus.
Und in den anderen?
In denen muss man berücksichtigen, dass es in Verfahren gegen Polizisten strukturelle Besonderheiten gibt.
Das beginnt damit, dass Kollegen gegen Kollegen ermitteln. Es entsteht eine besondere Situation, in der die
Ermittler für den Beschuldigten vielleicht ein besonderes Verständnis
haben – in der sie jedenfalls einen anderen Blick auf den Beschuldigten haben,
als auf andere, "normale" Beschuldigte.
Was aber, wenn die Beweislage klar ist?
In solchen Verfahren gibt es oft eine schwierige
Beweiskonstellation. Häufig steht Aussage gegen Aussage. Auf der einen
Seite ein mutmaßliches Opfer, auf der anderen Seite ein Polizeibeamter. Die
Justiz, insbesondere die Staatsanwaltschaft, muss sich dann entscheiden,
welcher Seite sie Glauben schenkt.
Außerdem agieren Polizisten selten alleine, sondern sind immer
mindestens zu zweit unterwegs. In der Praxis kommt es aber nur sehr selten vor,
dass Polizeibeamte gegen ihre Kollegen aussagen. Oft stehen deshalb die
Aussagen mehrerer Polizisten gegen die Aussage eines mutmaßlichen Opfers.
Was müsste sich also in
den Ermittlungs- und Strafverfahren gegen Polizisten verändern?
Ich glaube, jeder Schritt in Richtung mehr Unabhängigkeit
der Ermittlungen ist ein guter Schritt. Es gibt in einzelnen Bundesländern
relativ unabhängige Dienststellen der Polizei, die solche Ermittlungen führen.
Das ist ein Anfang. Weitere Schritte, zum Beispiel hin zu einer
unabhängigen Ermittlungsinstanz, wären aber wünschenswert. Letztlich braucht es einen Kulturwandel innerhalb
der Polizei. Dort muss sich stärker ein Verständnis durchsetzen, dass es bei
Körperverletzung im Amt um Straftaten geht, die nicht gedeckt werden dürfen,
sondern aufgeklärt werden müssen.
Mit ihrer
Online-Umfrage wollen sie Betroffene rechtswidriger Polizeigewalt befragen. Was
wollen Sie dadurch herausfinden, wenn die Lage so klar scheint?
Die Studie ist die erste groß angelegte und systematische
Untersuchung in diesem Bereich in Deutschland. Was wir bisher über das Thema
wissen, stammt vor allem aus der Staatsanwaltschaftsstatistik. Dort sehen wir
nur, wie viele Verfahren und wie viele Beschuldigte es gibt und wie die
Staatsanwaltschaften damit umgehen.
Das reicht nicht?
Wir glauben, dass es in dem Bereich ein relativ großes
Dunkelfeld gibt. Relativ viele Betroffene erstatten keine Anzeige, und die Fälle landen deshalb auch nicht in der Statistik. Das ist
ein wichtiger Anlass für unsere Studie. Wir wollen genau herausfinden, wie dieses
Dunkelfeld aussieht, welche Betroffenen Anzeige erstatten und welche nicht –
und was die Gründe dafür sind.
Wenn es ein Problem
bei der Polizei gibt, dann wäre es doch gut, wenn ihre
Studienergebnisse auch in Polizeischulen und Polizeidienststellen vorgestellt
und diskutiert würden. Arbeiten Sie da mit der Polizei zusammen?
Erstmal möchte ich betonen, dass wir unabhängige
Wissenschaftler sind – und dass es eine unabhängige wissenschaftliche Studie
ist, die ohne Beteiligung der Polizei stattfindet. Niemand muss also die
Befürchtung haben, dass wir Daten weitergeben oder ähnliches. Aber die Ergebnisse produzieren wir am Ende nicht
fürs Bücherregal, sondern um die wissenschaftliche, aber auch die öffentliche
Debatte über das Thema zu bereichern. Wir werden unsere Ergebnisse deshalb in
Veranstaltungen und Vorträgen vorstellen und wollen mit allen Beteiligten in die
Diskussion kommen.
Haben Sie das Gefühl,
dass die Polizei dafür offen ist?
Ich erlebe da sehr unterschiedliche Reaktionen. Die
Polizeigewerkschaften kritisieren unsere Arbeit eher. Aber wir bekommen auch ziemlich
viele aufgeschlossene, interessierte Rückmeldungen aus der Polizei. Da gibt es
schon eine Reihe von Leuten, die sich Gedanken über das Thema machen, und die
ein Interesse daran haben, sich mit unseren Ergebnissen auseinanderzusetzen.