"Mir geht es gut", sagt sie mit gebrochener Stimme. Ihre müden Augen, der blasse Blick zeigen eine andere Realität. Das Kopftuch liegt wie ein Schal um ihren Hals. Nervös spielt die junge Afghanin mit einem Faden ihrer zerfransten Jeans.
"Die Taliban haben uns gefunden." Sie schnappt nach Luft, hebt den Kopf nach oben, als wollte sie, dass die Tränen zurückfließen. Seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021 geht Amena* durch die Hölle. Ein Schicksal, das als Beispiel für viele andere Menschen in Afghanistan steht.
Der chaotische Abzug aus Afghanistan, der rasante Fall von Kabul, die hektische Evakuierung über den Flughafen der afghanischen Hauptstadt – es sind Bilder, die um die Welt gingen.
Doch jene Menschen, die gemeinsam mit den USA und Deutschland ein freies, demokratisches Land aufbauen wollten und von ihren Verbündeten zurückgelassen wurden, leben heute in Angst und Schrecken.
Es sind Übersetzer:innen, Lehrer:innen, Journalist:innen, Regierungsmitarbeitende und moderne, selbstbewusste Frauen wie Amena.
Die Familie von Amena ist zur Zielscheibe der Taliban geworden. Grund: In deren Augen sind sie vom Glauben abgekommen, leben ein unmoralisches Leben und besäßen keine Ehre.
Amenas Eltern schickten sie und ihre zwei Schwestern zur Schule, die Mutter führte einen Schönheitssalon, der Vater unterstützte das. Die Schule, auf die Amena ging, wurde von einer deutschen Organisation gefördert – was vor allem ihrem Onkel ein Dorn im Auge war. Denn er ist Mitglied der Taliban. Seit dem Abzug der westlichen Mächte will er an ihrer Familie Rache üben.
Die Familie flüchtete nach Pakistan, dort hofften sie auf Hilfe: Die deutsche Bundesregierung, die Initiative "Kabul Luftbrücke", der "Afghanische Frauenverein", die UN – irgendwer musste ihnen doch helfen können?
Es war aussichtslos. Bereits im November 2023 erzählte Amena watson ihre Geschichte und von ihrer größten Furcht, zurück nach Afghanistan zu müssen.
Dieser Albtraum wurde Realität.
Im Februar wuchs der Druck der pakistanischen Regierung so sehr an, dass die Familie zurück nach Afghanistan musste. Es begann ein Versteckspiel; ein Leben im Schatten, mit der ständigen Angst, der Taliban-Onkel könnte sie finden.
"Wir wohnten bei meiner Tante. Ich nutzte nicht mal mein Handy in dieser Zeit, sah das Sonnenlicht nicht", sagt die 23-Jährige im Gespräch mit watson.
Im März hörten sie davon, dass jemand ihr Haus in Brand gesetzt hatte. Es sei unklar, wer es war, aber für Amena steht fest: Die Brandstifter seien ihr Onkel und seine Taliban-Freunde.
Doch es sollte noch viel schlimmer kommen.
"Kurz darauf stürmten mehrere Leute das Haus meiner Tante", sagt sie mit hoher Stimme und unterdrückt die Tränen. Sie sitzt mit nackten Füßen im Schneidersitz vor der Kamera, knetet die Hände zur Faust. "Es waren drei vermummte Männer, sie schlugen auf uns ein, sprachen kein Wort." Die junge Frau versteckt ihr Gesicht hinter ihren Händen, der Oberkörper bebt leicht, sie schluchzt.
Sie erzählt, wie ihre Mutter und ihre Tante noch schrien: "Nehmt mich stattdessen mit, nicht sie!" Aber die Männer packten die älteste Schwester am Arm und zerrten sie mit sich. Amena und ihre jüngeren Geschwister verkrochen sich in der Küche.
Ein Monat lang habe die Familie nicht gewusst, wo sie ist, wie es ihr geht, ob sie am Leben ist.
In dieser aussichtslosen Lage und schmerzenden Ungewissheit entschloss sich der Vater, sich seinem Taliban-Bruder zu stellen. Man könne sich doch zusammensetzen, die Probleme lösen. Es vergingen weitere zwei Monate, bis herauskam, dass die Schwester tatsächlich bei dem Onkel war.
Bevor der Vater sich aber darum kümmern konnte, wollte er seine Familie in Sicherheit wissen. Es begann erneut eine gefährliche, kräftezehrende Flucht zurück nach Pakistan.
"Fluchthelfer brachten uns über großem Umweg durch den Iran zurück nach Pakistan", erzählt Amena. Auf ihrem Weg trafen sie auf IS-Terroristen, die sie aber zum Glück ignorierten. Angekommen in Pakistan reiste der Vater zurück in die Heimat, um die Schwester zu retten.
"Er log uns monatelang an, dass sie nicht bei ihm wäre", sagt Amena über ihren Onkel. Er wollte sie zwangsverheiraten, aber irgendwie sei es ihrem Vater gelungen, die 24-Jährige dort herauszuholen. "Er musste etwas unterschreiben", meint sie, wisse aber nicht, was genau. Dann brachte er die Schwester nach Pakistan. Doch es geht ihr schlecht.
Mit ernstem Blick starrt die Afghanin ins Leere, als spielten sich die Szenen nochmals im Schnelldurchlauf vor ihren Augen ab. Tränen rollen über ihre Wangen. Diesmal lässt Amena sie einfach laufen, ohne sie verbergen zu wollen.
"Sie liegt im Krankenhaus", sagt die Afghanin über ihre Schwester. "Ihr fallen die Haare aus, sie spricht nicht mehr und ist verängstigt." Nicht mal gegenüber der Mutter wolle sie sich öffnen. Der Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) unterstütze die Familie mit der Betreuung der Schwester in Pakistan.
"Das ist die einzige Hilfe, die wir erhalten", sagt Amena. Nun sitzt die Familie wieder in Pakistan fest; wieder beginnt die Angst, die Polizei hämmert an die Tür und teilt ihnen mit, das Land zu verlassen. Der Vater hält die Familie mit etwas Geld über Wasser, das er in einem Laden illegal verdient.
Die Familie sehnt sich nach Sicherheit, klammert sich an jede Hoffnung, etwa nach Deutschland ausreisen zu können. Doch niemand kann ihnen helfen. "Es ist, als glaubte man uns nicht", klagt Amena. Doch das Problem liegt ganz woanders, meint die Initiative "Kabul Luftbrücke".
Der Fall von Amena ist der deutschen Hilfsinitiative bekannt. Die Afghanin nahm damals auch mit ihnen Kontakt auf, bestätigt ein Sprecher im Gespräch mit watson. Ziel der 2021 gegründeten "Kabul Luftbrücke" ist es, Menschen bei der sicheren und legalen Ausreise zu unterstützen. Doch der Frust ist groß.
"Es heißt, das Bundesaufnahmeprogramm werde jetzt schon eingestellt", sagt der Sprecher der "Kabul Luftbrücke". Sprich, defacto sei das Aufnahmeprogramm schon seit Juli eingestellt worden, behauptet er. "Seit einem Monat werden keine Aufnahmezusagen mehr vergeben, es finden auch keine weiteren Auswahlrunden mehr statt."
Grund: Der am 17. Juli 2024 vorgestellte Haushaltsentwurf des Bundeskabinetts für 2025 sieht massive Kürzungen für die humanitäre Aufnahme vor.
Dabei versprach Deutschland vor einem Jahr noch, pro Monat 1000 Schutzbedürftige aus Afghanistan zu holen. Dazu wurde das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan (BAP) ins Leben gerufen. Doch die eigentlichen Ziele des Programms wurden nie "ernsthaft" verfolgt, meint der Sprecher von "Kabul Luftbrücke". Es sei lediglich ein Lippenbekenntnis gewesen.
Er wirft der Bundesregierung vor, das Bundesaufnahmeprogramm bewusst sabotiert zu haben, damit Deutschland nicht so viele Schutzsuchende aus Afghanistan aufnehmen müsse.
"Man schließt das Programm unter falschem Vorwand, es wären angeblich nicht so viele Leute gekommen wie angenommen. Was lächerlich ist", führt er aus.
Zu den Vorwürfen äußert sich ein Sprecher des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMI): "Im Rahmen der laufenden Aufnahmeverfahren aus Afghanistan hat die Bundesregierung bisher die Einreise von über 34.300 gefährdeten Afghan:innen einschließlich ihrer Familienangehörigen ermöglicht."
Das sei im EU-Vergleich die mit Abstand höchste Zahl, teilt der BMI-Sprecher auf watson-Anfrage mit.
Das Bundesaufnahmeprogramm sei einzigartig im Vergleich zu Aufnahmeverfahren anderer Staaten. Laut dem Sprecher ist es über die vergangenen drei Jahren gelungen, dass durchschnittlich fast 1000 Personen pro Monat über die verschiedenen Aufnahmeverfahren aus Afghanistan nach Deutschland einreisen konnten.
Es gebe allerdings "erhebliche Herausforderungen für die Umsetzung des Programms" aufgrund der schwierigen Rahmenbedingungen vor Ort. Es fehlen etwa bewährte Unterstützungsstrukturen, wie eine Auslandsvertretung oder die Vorauswahl geeigneter Personen durch den UNHCR.
Vor allem die Identifizierung geeigneter Personen zur Aufnahme in das Programm sei unter diesen Bedingungen komplex. "Daraus können sich zeitaufwendige Prüfungen ergeben, bis eine Entscheidung über eine Aufnahme getroffen werden kann", heißt es.
Bereits im Oktober 2023 räumte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) gegenüber dem ZDF Hürden des Bundesaufnahmeprogramms ein: "Tatsächlich haben wir derzeit Probleme, Menschen aus Afghanistan rauszubekommen." Aus Sicherheitsgründen habe man das Programm mehrere Monate aussetzen müssen. Nun soll es komplett eingestellt werden.
Die Hilfsorganisation "Amnesty International" übt dazu scharfe Kritik:
Zugleich werden die Menschen im Land allein gelassen – das bestätigt eine breite Befragung der Hilfsorganisation, wie sie in ihrer Pressemeldung mitteilt.
Menschen wie Amena und ihre Familie.
"Afghanistan ist ein Gefängnis für Frauen, sie verlieren ihre Rechte, Zwangsehen florieren. Frauen, die zuvor mit dem Westen zusammengearbeitet haben, suchen sich die Taliban besonders heraus", sagt der Sprecher von "Kabul Luftbrücke".
Es gebe Menschen, die seit Jahren in Pakistan warten, obwohl sie im Aufnahmeprogramm registriert sind. Für Amena sieht er schwarz. Am Ende müsse sie einen anderen Weg finden; die Bundesregierung habe sie im Stich gelassen. "Im Innenministerium herrscht Ignoranz."