Weltweit gehen Menschen gegen den Krieg auf die Straße. Sie protestieren gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und zeigen Solidarität mit der Ukraine. Auch in Russland gibt es diese Proteste. Putin passt das natürlich gar nicht – die Polizei nimmt tausende Demonstrierende fest.
Unter den Festgenommenen ist eine der bekanntesten Überlebenden der Blockade von Leningrad: Elena Osipova, die in Sankt Petersburg friedlich gegen den Krieg demonstriert hat. Zwischen 1941 und 1944 belagerte die deutsche Wehrmacht das damalige Leningrad und heutige Sankt Petersburg – und verursachte so den Tod von bis zu einer Million Menschen.
Der Direktor für Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch, Hugh Williamson, fasst die Lage in Russland folgendermaßen zusammen: "Jetzt bringt die Regierung all jene zum Schweigen, die sich gegen den Krieg mit der Ukraine aussprechen." Auch vorher sei die freie Meinungsäußerung nur schwer möglich gewesen.
Die 27-jährige Aktivistin Kate möchte nicht schweigen. Auch sie wurde bereits bei einer der Anti-Kriegs-Demonstrationen in Moskau verhaftet und möchte bei watson ihre Geschichte erzählen.
"Die Situation in Moskau ist sehr seltsam.
In einem Bezirk gehen Menschen auf die Straße, um zu protestieren, und sie werden festgenommen. Ein anderer Teil der Menschen lebt ein normales Leben und tut so, als wäre nichts passiert.
Jeden Tag wird das gesamte Zentrum von der Polizei und Omon (eine Einheit der russischen Nationalgarde Anm. d. Red) abgeriegelt.
In Moskau und anderen Städten nimmt die Polizei Demonstranten brutal fest und behält sie auf dem Polizeirevier. Strafverfahren gegen Demonstranten werden eröffnet. Ich selbst nahm an den Protesten gegen den Krieg teil und wurde auch von der Polizei auf der Straße festgenommen.
Dies geschieht jeden Tag: Buchstäblich tausende von Menschen werden festgenommen. Bisher bleibt es bei sogenannten Verwaltungsverhaftungen und Geldstrafen.
Mein Verhör wurde von operativen Beamten durchgeführt, genau wie bei den anderen Demonstrierenden, die mit mir in derselben Polizeiwache waren – wir waren 24 Personen.
Sie haben ihre Haltung uns gegenüber nicht versteckt – im Büro bedrohten uns die Einsatzkräfte. Sie versuchten, die Telefone zu entsperren, sprachen von Landesverrat und versuchten, Druck auf uns auszuüben.
Ein Agent zitierte Felix Dzerzhinsky (Gründer und Leiter der bolschewistischen Geheimpolizei Tscheka, Anm. d. Red): 'Die Tatsache, dass Sie frei sind, ist nicht Ihr Verdienst, sondern unser Fehler.'
Es war nicht meine erste Demonstration, daher war ich darauf vorbereitet, was passieren kann. Aber es waren auch sehr junge Menschen dabei, die das erste Mal auf die Straße gegangen sind – und sie hatten große Angst.
Momentan ist der Krieg in Moskau natürlich ein sehr aktuelles Thema: Kinder streiten sich mit ihren Eltern, Freunde hören auf zu kommunizieren. Die russische Propaganda arbeitet sehr hart und viele glauben aufrichtig daran, dass es keinen Krieg gibt. Diejenigen, die sich gegen den Krieg auflehnen, können denen, die jetzt schweigen, nicht vergeben. Dieser Krieg hat jeden zerstört.
Ich denke, alle Aufrufe, auf die Straße zu gehen, sind jetzt notwendig. Unsere Zivilgesellschaft ist unter dem Druck des Staates sehr schwach geworden und die Menschen haben Angst. Zu wissen, dass es einen bestimmten Ort und eine bestimmte Zeit gibt, erleichtert es den Menschen, auf die Straße zu gehen. Es ist aber auch wichtig, dass nicht nur Alexej Nawalnys Team die Menschen auf die Straße ruft – viele zivile und politische Gemeinschaften arbeiten aktiv daran, dass sich mehr Menschen öffentlich gegen den Krieg aussprechen.
Leider kommt es darauf an, wie viele Menschen auf den ersten Schock hin auf die Straße gehen. Am ersten Tag des Krieges haben zwischen 2000 und 10.000 Menschen an Protesten teilgenommen. Viele Menschen haben Angst davor, auf die Straße zu gehen oder sehen keinen Sinn darin.
Allerdings zeigen viele Menschen ihren Protest nicht nur in Form von Kundgebung, sondern schreiben Appelle und Petitionen, bringen Blumen zur ehemaligen Botschaft der Ukraine, hängen Flugblätter auf oder gehen zu einzelnen Streikposten – das ist auch eine Art von Widerstand.
Es ist nicht zu leugnen, dass es viele Menschen gibt, die den Krieg unterstützen. Aber nicht alle Russen – viele sind jetzt mit dem Herzen bei der Ukraine und wollen Frieden.
Meine Freunde sind in der Ukraine, meine Verwandten auch. Es ist unmöglich, darüber zu schweigen."
Hinter jeder Katastrophe stecken eigene Geschichten. Wir lassen sie von denen erzählen, die sie erleben.