Perle am Schwarzen Meer, so haben Tourismusunternehmen und Reisejournalisten Odessa oft genannt. Odessa ist die drittgrößte Stadt der Ukraine, die bedeutendste Hafenstadt. Sie ist für ihre Strände bekannt, für die prachtvollen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert. An den Stränden und vor den Häusern im Zuckerbäckerstil stehen jetzt Panzersperren, zusammengeschweißt aus alten Straßenbahngleisen.
Sie warten hier auf die russischen Panzer und Soldaten, auf Artilleriefeuer. Sie fürchten, dass die Raketen und Marschflugkörper nicht mehr nur am Stadtrand einschlagen, sondern im Stadtzentrum.
Odessa hat 1,1 Millionen Einwohner, etwas mehr als Köln.
Einer von ihnen ist Sascha Radionow, 43 Jahre alt, freier Journalist, Vater eines siebenjährigen Jungen. Er hat watson beschrieben, wie der Krieg seinen Alltag auf den Kopf gestellt hat. Und wie es jetzt ist, in permanenter Angst zu leben.
Ein Protokoll:
Ich arbeite und lebe in Odessa. Seit dem Beginn der russischen Invasion wohnen meine Familie und ich aber im Haus meiner Eltern, 100 Kilometer von Odessa entfernt. Ich arbeite als freier Journalist und Verlagsmanager. Ich erledige Druckaufträge und schreibe Artikel.
Ein normaler Tag sieht für mich eigentlich so aus: Ich stehe auf, trinke einen Kaffee, unterhalte mich mit meiner Frau. Und dann mache ich mich an die Arbeit in meinem Homeoffice: Ich schreibe Texte, layoute, arbeite mit Druckereien, Werbekunden, anderen Journalisten und Kunden zusammen. In den Pausen bespreche ich mit meiner Familie, was zu Hause ansteht.
Wir haben einen Sohn, er ist sieben Jahre alt, er mag Flugzeuge sehr gern.
In meiner Freizeit fahre ich gerne Rad, mache Sport an der freien Luft, spiele Airsoft. Und manchmal gehe ich an die Küste zum Angeln. Von meiner Wohnung aus sind es zu Fuß 20 Minuten bis zum Meer. Hier in der Nähe gibt es einen Park, in dem ich mit meinem Sohn und ein paar Freunden jedes Jahr Bäume pflanze.
Am 24. Februar, um 5 Uhr morgens, war ich gerade dabei, ins Bett zu gehen. Ich hatte Putins Rede, in der er die Invasion angekündigt hatte, auf Youtube gesehen und konnte nicht schlafen. Plötzlich hörten wir einen Knall: Direkt über meinem Haus hatte die ukrainische Luftabwehr russische Raketen abgefangen.
Mein Sohn heulte los, ich musste ihn und meine Frau beruhigen. Ich hatte meine liebe Not, ihm zu erklären, dass jetzt der Krieg begonnen hatte. Und dass wir das Haus verlassen mussten.
Ein paar Stunden später schlug eine Rakete in einer Radarstation in einem Militärstützpunkt in unserer Nähe ein. Wir haben das Dringendste eingepackt und ich bin meiner Familie – also meiner Frau, meinem Sohn, meiner Schwiegermutter und unserem Hund in das Dorf gefahren, in dem meine Eltern wohnen.
Wir sind dorthin, weil ich Angst hatte, dass eine Rakete unser Haus treffen könnte: Odessa ist eine große Hafenstadt mit viel strategisch wichtiger Infrastruktur. Außerdem machte ich mir Sorgen um meine Eltern. Und mir war klar, dass bald die Mobilmachung angekündigt würde. Und ich wurde beim Militär in dem Ort registriert, in dem meine Eltern leben.
Hier auf dem Dorf bin ich immerhin nah bei meiner Familie. Meine Eltern sind beide 70 Jahre alt.
Meine Arbeit bringt mir momentan keine Einnahmen. Ich helfe trotzdem gratis weiter dabei mit, das Nachrichtenportal, für das ich arbeite, auf dem Laufenden zu halten. Die Leute sollen ja wissen, was los ist.
Unser Leben ist momentan wie ein Alptraum, der nicht enden will. Besonders für meine Familie. Sie wollen nicht, dass ich sie ins Ausland fliehen lassen. Sie sind alle sehr nervös, haben Angst, sind deprimiert. Wir warten hier alle darauf, dass die Russen unsere Region angreifen. Wir bekommen mehrmals täglich den Bombenalarm, wir sehen die Nachrichten darüber, was die Bombardements und der Beschuss anrichten.
Hier in der Ukraine herrscht Kriegsrecht, außerdem gilt von 19 Uhr abends bis 6 Uhr morgens eine Ausgangssperre. Ohne Sondergenehmigung darf niemand auf die Straße, das öffentliche Leben ist stillgelegt. Soldaten patrouillieren die ganze Nacht über, um zu verhindern, dass Saboteure auftauchen. Wir hören mehrfach pro Nacht Bombenalarm.
Morgen für Morgen versuchen wir, Ordnung in unser Leben zu bringen. Wir leben in ständiger Angst vor einem russischen Angriff und vor den humanitären Problemen, die das mit sich bringen könnte. Wir hören von Freunden und Bekannten in Cherson und Charkiw, was dort los ist. Und es fällt uns schwer, nicht in Panik zu verfallen und zum Beispiel Panikkäufe zu machen.
Überhaupt, die Einkäufe: Produkte, die sonst in jedem Supermarkt gab, findest du jetzt gar nicht mehr: zum Beispiel frischen Joghurt und Milch. Die Preise für viele Produkte sind mehrfach erhöht worden.
Die Leute bestehen jetzt auch eher darauf, mit Bargeld zu bezahlen. Das bedeutet wiederum, dass es an vielen Bankautomaten keine Scheine mehr gibt. Aber gerade in kleinen Geschäften brauchst du jetzt unbedingt Bargeld: Die Eigentümer akzeptieren keine Kartenzahlung mehr. Sie haben Angst, dass das Geld auf ihrem Konto einfach verschwindet.
Es ist sehr schwer, von A nach B zu kommen. Der Verkehr ist wegen der Ausgangssperre auf das Minimum reduziert.
Ich versuche seit Beginn der Invasion, mehrere Freunde zu erreichen. Zum Beispiel meinen Kumpel Nikolai aus Cherson. Zu Freunden in Charkiw und Kyjiw habe ich regelmäßig Kontakt. Was sie mir erzählen, ist schrecklich. Und erst die Fotos und die Videos, die sie mir schicken…
Ich wurde bisher nicht zum Militär eingezogen. Ich habe keinen Wehrdienst absolviert. Das heißt: Selbst jetzt, nach der Mobilmachung, gehöre ich zu den letzten, die an die Waffen gerufen werden. Ich wollte mich auch bewaffnen, um mein Land zu verteidigen. Aber da es schon sehr viele freiwillige Reservisten gab und weil ich eben keine militärische Ausbildung habe, haben sie mich nicht genommen.
Ich bleibe aber in Kontakt mit vielen Reservisten. Sie wissen: Wenn die Russen auch hier angreifen, dann bin ich bereit, freiwillig an ihrer Seite zu kämpfen, um sie zu schützen.
Hinter jeder Katastrophe stecken eigene Geschichten. Wir lassen sie von denen erzählen, die sie erleben.