Polen streitet.
Mit der EU zum Beispiel, weil diese die Rechtsstaatlichkeit im Land anzweifelt. Grund dafür ist unter anderem eine Reihe von Justizreformen, die die Unabhängigkeit des Verfassungsgerichtes infrage stellen. Im Oktober hat genau dieses Gericht geurteilt, dass Teile des EU-Rechts polnisches Recht verletzten – und polnisches Recht über EU-Recht stehe. Würde sich dieser Grundsatz in Europa durchsetzen, wäre die EU – die nur mit gemeinschaftlichen Regeln funktioniert – am Ende.
Polen streitet auch mit Belarus. Als EU-Außengrenzstaat verteidigt Polen seine Grenze aufs Härteste gegen die von Belarus eingeflogenen Geflüchteten. Menschen sterben dort. Ohne Zeugen. Denn im Gebiet gilt der Ausnahmezustand und Presse sowie Hilfsorganisationen haben fast keinen Zutritt.
Es brodelt auch in Polen: zwischen dem Staat und den Bürgerinnen und Bürgern, zwischen unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen: Dabei geht es um die körperliche Selbstbestimmung von Frauen, die katholische Kirche, Tradition und Nationalismus.
Wie ist Polen da hingekommen, wo es heute steht? In diesem Serienteil geht watson dieser Frage nach. Gemeinsam mit Historiker Stefan Garsztecki von der Technischen Universität Chemnitz haben wir einen Zeitstrahl erarbeitet – und nachgezeichnet, welche Ereignisse der polnischen Geschichte bis heute nachwirken.
Das sagt der Historiker über die Bedeutung der Geschichte Polens insgesamt:
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Ende des vierzehnten Jahrhunderts treffen das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen eine Vereinbarung: die Union von Krewo. Sie folgt aus der Heirat des litauischen Großfürsten Jogaila mit der minderjährigen polnischen Königin Hedwig. Jogaila wird dadurch König Władysław II.
Mit dieser Heirat sind eine Reihe von Bedingungen verknüpft: Der heidnische Jogaila muss zum Katholizismus konvertieren, Litauen muss besetzte Gebiete an Polen zurückgeben und christliche Kriegsgefangene freilassen. Die südlichen Gebiete Litauens gehen an Polen.
Ein Jahr nach der Heirat entsteht der Unionsstaat Polen-Litauen. Fast 400 Jahre wird er als Staat Bestand haben.
Dem Vielvölkerstaat gehören neben dem heutigen Polen weite Gebiete der heutigen Staaten Litauen, Lettland und Belarus an – sowie Teile des heutigen Russland, Estland, Rumänien, Moldau und der Ukraine. Die Union hat zum einen ein feudales Ständesystem, wie in fast allen europäischen Ländern des Mittelalters. Trotzdem gibt es Elemente einer parlamentarischen Monarchie.
So wird nach dem Aussterben der ersten Monarchie von Polen-Litauen eine Wahlmonarchie eingeführt: Theoretisch kann jeder Adlige König von Polen werden, wenn er dazu gewählt wird. Außerdem wird das Ständeparlament, der Sejm, eingeführt. Auch heute noch heißt die zweite Kammer – neben dem Senat – im polnischen Staat Sejm.
Selbst, wenn sie Jahrhunderte zurückliegt – Auswirkungen hat die Union bis heute. "Wenn man sich mal eine Karte aus dem 16. Jahrhundert anschaut, dann sieht man, dass der Unionsstaat mit etwa einer Million Quadratkilometer der größte Staat Europas war", erklärt Historiker Garsztecki. "Es gab noch immer das Großfürstentum Litauen und das Königreich Polen – letzteres hat damals die gesamte heutige Ukraine umfasst."
Das bedeutet: Die polnische Kultur hat sich weit ausgedehnt. Bis tief in den Osten hinein. Teile, die seit 1945 nicht mehr zu Polen gehören. "Dazu zählen zum Beispiel die westliche Ukraine, das westliche Belarus und Gebiete um die Hauptstadt Vilnius im heutige Litauen", so Garsztecki. Das heißt auch gleichzeitig, dass sehr viele Polen ihre familiären Wurzeln in den östlichen Staaten Ukraine, Litauen und Belarus haben.
Dass also polnische Bürgerinnen und Bürger – wie auch die Politik – ein größeres Verständnis, eine größere Sensibilität für eben diese östlichen Staaten haben, rührt auch daher.
Polens Kultur steht wegen dieser politischen Heirat den östlichen Nachbarn näher als den westlichen. Was für die Deutsche Literaturgeschichte Goethe und Schiller sind, sind für die Polen Dichter und Literaten aus Gebieten, die nicht mehr zu Polen gehören, so Garsztecki.
Das Prinzip der Wahlmonarchie macht der Adelsrepublik Polen-Litauen zunehmend Probleme: Während sich in anderen europäischen Staaten mit Ende des Dreißigjährigen Krieges absolute Herrscher durchsetzen, steht an der Spitze Polens ein weitgehend entmachteter König. Vor allem Russland, Preußen und Österreich nehmen zunehmend Einfluss auf die Wahl des obersten Staatsmannes, während die Freiheiten des Adels das Staatsleben innerhalb Polens lähmen.
Der Grund hierfür: Der Sejm, das Parlament der Adligen, fasst Beschlüsse nach dem Prinzip der Einstimmigkeit. Die Adeligen kippen somit nahezu jede Beschlussvorlage, auch die des Königs selbst. Der Monarch kann fast gar nichts tun.
Im Zuge dessen wittern Preußen, Österreich und Russland ihre Chance. Sie führen Krieg gegen Polen, mit insgesamt drei Teilungen wird der polnische Staat zwischen 1772 und 1795 zersetzt.
"Mit der Teilung Polens hat dieser Staat aufgehört zu existieren", sagt Historiker Garsztecki. Eine große Rolle während dieser Teilung habe die katholische Kirche gespielt – als Klammer, die die Bevölkerung in dem zersplitterten Land zusammenhält.
So ordnet der Historiker die Bedeutung der Kirche ein:
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Polen wird in Teilen zum Land der Aufständischen und Oppositionellen: Viele setzten ihre Hoffnung in das revolutionäre Frankreich und in Napoleon, der Ende des 18. Jahrhunderts die Macht in Frankreich an sich reißt. Polnische Militärs kämpfen für den französischen Kaiser. Dieser bildet schließlich das Herzogtum Warschau – ein französischer Satellitenstaat. Viele Polen ziehen daraufhin mit dem französischen General in den Krieg gegen Russland, den Frankreich verliert. Weite Teile des Herzogtums werden von Russland besetzt, ebenso die Hauptstadt Warschau.
Der Wiener Kongress – der 1814/1815 auf den Sturz Napoleons und das Ende der Revolutionskriege folgt – ordnet Europa neu. Dort entsteht das "Königreich Polen", auch Kongress Polen genannt. Der König im Reich wird der russische Zar. Während seiner Herrschaft geht das polnische Volk mehrmals auf die Barrikaden. Als Reaktion darauf setzt der Zar auf eine Russifizierungspolitik: Er will die russische Sprache und Kultur im Land durchsetzen – und unterdrückt die der Polen. Ab 1871 kommt der Druck auch aus dem Westen: Im frisch gegründeten deutschen Kaiserreich verschärft Preußen den Kulturkampf gegen die Polen im deutschen Osten.
Das sagt Garsztecki über den "Saisonstaat" Polen:
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Dass Polen damals jahrzehntelang nicht mehr existiert, "ist noch immer der sensible Punkt in Polen", erklärt Historiker Garsztecki. "Und zwar in mehrerer Hinsicht." Die Unabhängigkeit, die Souveränität des Staates Polen ist auch heute noch den Bürgerinnen und Bürgern sehr wichtig. Er ergänzt: "2016 hatten wir einen Parlamentsbeschluss in Polen, der die nationale Souveränität betont." Andererseits ist Polen Mitglied der Europäischen Union – und hat, wie alle anderen EU-Staaten – einen Teil seiner Souveränität abgetreten.
Ein weiterer Punkt ist: "Der Wert der polnischen Freiheit ist in dem Land extrem hoch." Diese Sehnsucht und das Festhalten an der nationalen Freiheit sei vergleichbar mit der US-amerikanischen Kultur. "Aus deutscher Perspektive wirkt das oft ein bisschen merkwürdig, aber man lobt in Polen den Wert der Freiheit und man kämpft dafür."
Man sei bereit, für diese Freiheit einzutreten, zur Not auch militärisch. Daher rühre auch das Engagement für die Ukraine und für Georgien in den vergangenen Jahren – die Souveränität beider Staaten wurde militärisch von Russland angegriffen.
Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges endet in Polen auch die Zeit der Fremdherrschaft. Die Wiedergewinnung der Unabhängigkeit ist für Polen aus Sicht von Garsztecki eines der prägendsten Ereignisse im 20. Jahrhundert. Was folgte, sei ein Kampf um Anerkennung gewesen.
"Seit 5:45 Uhr wird jetzt zurückgeschossen!", diese Worte aus der Rede Adolf Hitlers, mit der er den Angriff auf Polen rechtfertigen wollte, kennt wohl jeder aus dem Geschichtsunterricht. Ebenso den Fakt, dass das eine Lüge war. Es wird nicht zurückgeschossen. Deutschland schießt zuerst.
Der Überfall der Deutschen auf Polen ist der Startschuss des Zweiten Weltkrieges.
Der 17. September 1939 ist aus Sicht des Historikers das zweite prägende Ereignis in der polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Tag, an dem die Rote Armee in Ostpolen einmarschiert – weil der sowjetische Diktator Stalin sich zuvor mit Hitler auf eine Aufteilung Polens geeinigt hatte. Wenige Tage später kapituliert Polen: Der Westen des Landes unterwirft sich Deutschland und handelt einen "Freundschaftsvertrag" aus, Ostgebiete werden der belarussischen und ukrainischen Sowjetrepublik angegliedert. Eine weitere Teilung in der polnischen Geschichte.
"Das hat viele Familien im Land berührt", sagt Garsztecki.
Das sagt Garsztecki über Vertriebene in und aus Polen:
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Enorm gewesen seien außerdem die materiellen Verluste, meint der Historiker und erinnert in diesem Zusammenhang an die Zerstörung der polnischen Hauptstadt Warschau im Zuge des Aufstandes 1944.
Die Regierungspartei PiS nutzt diesen schmerzhaften Teil der Geschichte bis heute – für eine "affirmative", also bejahende Geschichtspolitik, die ein Eindruck vermitteln soll, in Polens Geschichte sei es trotz allem immer nach vorne gegangen.
Historiker Garsztecki sagt dazu:
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Garsztecki ergänzt:
Das sagt Garsztecki über Unterschiede in der Betrachtung der polnischen Geschichte:
Wegen der Unterdrückung durch die deutschen Besatzer formiert sich in Warschau Widerstand: Die Armia Krajowa "Polnische Heimatarmee" begehrt auf. 63 Tage dauern die Kämpfe, bis die deutschen Besatzer ihre Widersacher blutig niederschlagen und ein zerstörtes Warschau zurücklassen.
Letztlich hatte aber auch die polnische Armee dazu beigetragen, dass Deutschland besiegt wurde. Garsztecki führt aus:
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wird die Welt in zwei Blöcke geteilt: Osten und Westen. Die Supermächte USA und Sowjetunion. Wie andere Staaten östlich von Deutschland fällt auch Polen in den sowjetischen Machtbereich. Aber der Einfluss aus Moskau wirkt weniger stark als in anderen Ostblock-Staaten. "Eine richtige Sowjetisierung hat nur in Teilen stattgefunden", sagt Garsztecki.
Entstanden ist die Solidarność 1980 aus einer Streikbewegung von Arbeitern. Die unabhängige Gewerkschaft ist von Anfang an regimekritisch – unzufrieden mit der Sowjetunion. Unterstützung findet die Bewegung in Teilen der katholischen Kirche und im westlichen Ausland.
Fast ein Drittel der polnischen Gesellschaft ist damals laut Garsztecki Teil dieser Gewerkschaft. Es entsteht eine Solidarität über die gesellschaftlichen Grenzen hinweg – und schließlich eine Volksbewegung.
Die Solidarność wird die erfolgreichste freie und unabhängige Gewerkschaft im Ostblock.
Nach wie vor, erklärt Historiker Garsztecki, streitet man sich in Polen um das politische Erbe der Gewerkschaft Solidarność. "Solidarność ist ja bekanntlich am Runden Tisch vertreten gewesen, das war eine ausgehandelte Revolution – also ein evolutionärer Übergang aus dem Sozialismus in Marktwirtschaft und Demokratie."
Der Runde Tisch in Polen bezeichnet die Gespräche, die in der Übergangsphase vom kommunistischen Regime zur demokratischen Republik 1989 in Warschau stattfinden. Teilnehmer sind Vertreter der regierenden Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP), der Solidarność, der katholischen Kirche und anderer gesellschaftlichen Gruppen.
Das wirkt bis heute nach. Über die Bedeutung gesellschaftlicher Protestbewegungen sagt der Historiker Folgendes:
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Doch nicht alle Mitglieder der Solidarność sind laut Garsztecki einverstanden mit der Teilnahme an diesen Gesprächen. "Einige, vor allem die Gruppierung 'Kämpfende Solidarność' wollten eben keine 'Kompromisse mit Kommunisten eingehen'", sagt Garsztecki. Ein Konflikt, der bis heute nachhallt.
Wie die Gewerkschaft gesehen und in welcher Form wertgeschätzt werden soll, ist bis heute umstritten. Garsztecki ergänzt: "Die jetzige Regierungspartei PiS, deren Vorsitzender Jarosław Kaczyński übrigens damals auch am Runden Tisch saß, sagt, dieser Kompromiss ginge zu weit." Der Vater von Polens heutigem Ministerpräsidenten Mateusz Morawiecki hatte sogar die "Kämpfenden Solidarność" mitgegründet.
In der westlichen Welt verbinde man mit Fall des eisernen Vorhangs fast nur den Fall der Mauer, erklärt Garsztecki. "Aber als die Mauer fiel, am 9. November 1989, gab es in Polen schon demokratische, nicht kommunistische Ministerpräsidenten. Da wünscht man sich eine andere Würdigung."
Die symbolische Bedeutung der Solidarność ist in Polen also noch immer sehr groß. Heute sei sie allerdings eine "ganz normale Gewerkschaft, die eins zu eins auf PiS-Linie liegt und extrem konservativ und katholisch ist – das war sie 1980 natürlich nicht."
Polen streitet also.
Und mit einem Blick auf die Geschichte des Landes lassen sich mache Streitereien besser verstehen.