Arzt zieht nach Gaza-Mission erschütternde Bilanz: "Körperteile rund um Krankenhaus"
Triggerwarnung: Der folgende Text enthält Schilderungen von Gewalt, Krieg und den Folgen für Patient:innen und medizinisches Personal in Gaza, darunter Beschreibungen von Verletzungen und Tod. Diese Inhalte können belastend wirken.
Seit fast zwei Jahren dauert der Krieg im Gazastreifen an: Das Leben der Menschen in der Enklave hat sich damit dramatisch gewandelt, viele beschreiben es als Hölle auf Erden. Auch für medizinisches Personal bedeutet die Lage Dauerstress. Denn es gibt kaum Medikamente, Stromausfälle sind Normalität und Operationen unter Bombenalarm und ohne Narkose bestimmen den Alltag.
Aktuell verschärft eine neue Bodenoffensive der israelischen Armee in Gaza-Stadt die Lage. Nach UN-Angaben mussten in den vergangenen Tagen erneut Tausende Menschen fliehen. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International kritisieren die Angriffe als völkerrechtswidrig. Israel verweist dagegen auf militärische Notwendigkeiten.
Ein französischer Chirurg hat nun über seinen jüngsten Einsatz berichtet: Der Orthopäde arbeitete im August und September vier Wochen lang in einem Feldhospital der Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen (MSF). Jetzt erzählt er von zerstörten Städten, schwer verletzten Kindern und dem Alltag unter Dauerbeschuss. Er schildert Szenen, die selbst erfahrene Ärzt:innen kaum verkraften können.
Arzt in Gaza: Teile der Enklave gleichen einem Niemandsland
Um nach Gaza zu gelangen, mussten François Jourdel und sein Team in einen UN-Konvoi steigen, wie er der französischen Zeitung "Le Parisien" schildert. "Man durchquert ein Niemandsland, ein Schlachtfeld, wo alles zerstört ist, bis man die humanitäre Zone erreicht", sagt der 52-Jährige, der seit mehr als 20 Jahren in Krisengebiete reist. Dabei hatte er bereits vieles erlebt: von Naturkatastrophen bis zu Kriegen.
Bereits 2023, zu Beginn des Konflikts, hatte er in Gaza operiert. Nun habe er "Freunde wiedergetroffen – und ein Gebiet, das völlig dem Erdboden gleichgemacht wurde".
Sein Einsatzort: ein provisorisches Krankenhaus in Deir al-Balah, dazu gelegentlich das Nasser-Krankenhaus in Chan Junis. Dort übernimmt Jourdel komplizierte Fälle: Hauttransplantationen, das Schließen offener Frakturen, das Behandeln verstümmelter Gliedmaßen. "Wir haben bis zu 15 Patienten pro Tag operiert, mit minimalen Mitteln und fast ohne Pausen", berichtet er der Zeitung.
Angriff auf Nasser-Krankenhaus: Arzt berichtet Schockierendes
Besonders schockierend sei für ihn der 25. August gewesen. An diesem Tag traf ein doppelter Raketeneinschlag das Nasser-Krankenhaus. Jourdel entging dem Angriff nur knapp:
Die Belastung sei enorm, auch körperlich. "Nach zwölf Stunden ohne Essen ist man erschöpft", schildert der Chirurg in der "Le Parisien". Zwar habe er eigene Notrationen dabeigehabt, doch: "Sehr schnell hatte ich ein schlechtes Gewissen, also habe ich sie weitergegeben."
Was Jourdel im Vergleich zu 2023 am meisten erschüttert: die Zerstörung ganzer Stadtteile und die Unterernährung. "Meine Kolleginnen und Kollegen haben alle mindestens 20 Kilo abgenommen. Viele Patienten sind ausgemergelt."
Besonders schwer sei der Anblick von Kindern mit Kriegsverletzungen. "Schusswunden, Explosionen, schwere Verbrennungen. Normalerweise sieht man so etwas bei Soldaten, nicht bei Kindern." Die Heilungschancen von Wunden hängen ihm zufolge zudem vom Ernährungszustand ab – und der sei katastrophal.
Regelmäßig hagelt es Vorwürfe von unabhängigen Organisationen, die israelische Regierung verwende Hunger als Waffe. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt inzwischen vor einem "vollständigen Kollaps des Gesundheitssystems" in Gaza. Die UN-Kommission spricht seit Dienstag offiziell von Genozid. Nach UN-Angaben sind mehr als die Hälfte der Krankenhäuser nicht mehr funktionsfähig: entweder wegen Schäden oder weil Treibstoff, Medikamente und Personal fehlen.
Gaza: Amputationen an der Tagesordnung, Solidarität auch
Eine der härtesten Erfahrungen für Jourdel: Amputationen. "Die Entscheidung ist extrem schwer, weil Palästinenser keinen Zugang zu Prothesen haben", erzählt Jourdel. Er erinnert sich an einen 18-Jährigen: "Über einen Übersetzer flehte er mich an, sein Bein nicht abzunehmen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Solche Momente lassen einen nicht los."
Trotz allem habe er auch Solidarität und Menschlichkeit erlebt. Gleich zu Beginn sei eine Krankenschwester zehn Kilometer gelaufen, um ihm eine Packung Kekse zu schenken. Und er traf die kleine Nisma wieder, die er bereits 2023 kennengelernt hatte.
Jourdel betont, er sei kein Aktivist: "Ich beschreibe nur, was ich sehe, so wie es ein Journalist tun würde. Man muss nichts hinzufügen." Sein Fazit: Die Not der Menschen sei extrem, ihre Zukunft ungewiss. Und das medizinische Personal zeige eine bewundernswerte Stärke, schlafe in Zelten, arbeite Tag und Nacht. Für ihn steht fest: "Je länger ich darüber nachdenke, desto klarer wird mir: Ich werde zurückkehren."