Ein schreiendes Baby wandert über zahlreiche Köpfe, die vor einer Mauer mit Stacheldraht stehen. Ein Mann in Uniform greift das Kind an dem dünnen Ärmchen und zieht es auf die andere Seite hoch. Eine Szene, die sich vor drei Jahren am Flughafen in Kabul abspielte und um die Welt ging.
Die Verzweiflung der Menschen in Afghanistan war groß, sodass sie aus Furcht vor den Taliban drastische Schritte gingen. Viele hofften auf eine Ausreise, um ihr Leben zu retten – und womöglich auch das dieses Kindes, das die Familie einem wildfremden US-Soldaten anvertraute.
Afghan:innen, die mit dem Westen zusammenarbeiteten, drohte Gewalt und Tod durch die Hände der Taliban. Viele Menschen wollten raus aus dem Land; viele von ihnen sitzen aber bis heute noch dort fest oder befinden sich auf der Flucht, etwa in Pakistan.
Sie warten – auch drei Jahre später – vergeblich auf Unterstützung aus dem Westen. Währenddessen verschlimmert sich die humanitäre Lage in Afghanistan gravierend; insbesondere für Frauen und Mädchen.
Das bestätigt auch Julian Loh von der Organisation "Help – Hilfe zur Selbsthilfe". Die Hilfsorganisation macht es sich seit 1981 zur Aufgabe, afghanische Geflüchtete zu unterstützen.
Loh ist gerade aus Afghanistan zurückgekehrt und beschreibt die Situation vor Ort als alarmierend. "Die Wirtschaftslage ist schlecht und die Kaufkraft aufgrund der extremen Armut gering. Das wiederum begünstigt Kinderarbeit, Zwangsheiraten und Verschuldung.“ Gleichzeit breche das Interesse Deutschlands an Afghanistan ein.
"Die Unterstützung für die Menschen in Afghanistan lässt stark nach", sagt Loh. Ein Grund dafür seien auch die aktuellen Kürzungen des Etats für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit der Bundesregierung.
Das bekommt auch "Help" zu spüren. Seit März musste Lohs Organisation aufgrund der Mittelkürzungen beispielsweise ein Projekt zur Berufsausbildung einfrieren. "Dabei lief es 15 Jahre lang erfolgreich und zielte darauf ab, die Lebensumstände junger Menschen langfristig zu verbessern", führt der Experte aus.
Laut ihm liefen Planungen – Frauen trotz des Arbeitsverbots durch die Taliban – mit kreativen Lösungen die Teilnahme am Projekt zu ermöglichen. "Die Absage der Geber kam für uns sehr plötzlich und ist ein schwerer Schlag für die Frauen und Mädchen vor Ort", meint Loh.
Denn: Ohne Hilfsangebote wie diese würden Frauen und Mädchen immer weiter aus dem öffentlichen Leben isoliert. "Wir hätten das Projekt gern weitergeführt, aber leider können wir und viele andere Hilfsorganisationen ohne staatliche Unterstützung solche Bildungsprojekte nicht aus eigener Kraft realisieren."
Besonders schwierig ist die Lage seit der Machtübernahme der Taliban am 15. August 2021.
Loh zufolge hat der Rückzug aus Afghanistan die lokal arbeitenden Hilfsorganisation schwer getroffen. "Wir sind seit über 40 Jahren in Afghanistan aktiv und hatten zu diesem Zeitpunkt entsprechend viele lokale Mitarbeiter:innen in unseren Projekten vor Ort", führt er aus.
Obwohl klar gewesen sei, dass "Help" weiterhin im Land aktiv sein würde, war die Lage laut Loh damals extrem schwierig und unsicher. "Es war nicht klar, wie die Taliban mit Mitarbeiter:innen westlicher Nichtregierungsorganisationen verfahren würden. Die Angst unserer lokalen Mitarbeiter:innen war daher sehr groß", sagt er.
Afghan:innen, die sich gemeinsam mit westlichen Staaten für Demokratie und Menschenrechte einsetzten, leben seit der Machtübernahme der Taliban in Angst.
Deutschland versprach, pro Monat 1000 Schutzbedürftige aus Afghanistan zu holen. Dazu wurde das Bundesaufnahmeprogramm Afghanistan (BAP) ins Leben gerufen. Doch auch das soll wohl nun eingestellt werden.
Brisant: Der am 17. Juli 2024 vorgestellte Haushaltsentwurf des Bundeskabinetts für 2025 sieht massive Kürzungen für die humanitäre Aufnahme vor. Die Kritik von Hilfsorganisationen wie die Initiative "Kabul Luftbrücke" und Menschenrechtsorganisation "Amnesty International" ist groß.
Dabei schreibt die Bundesregierung selbst, sie habe 45.000 besonders gefährdeten Afghan:innen sowie ihren berechtigten Familienangehörigen eine Aufnahme in Deutschland in Aussicht gestellt. Bisher seien über 33.200 Personen eingereist (Stand: April 2024).
Ein Sprecher des Bundesministeriums des Innern und für Heimat spricht auf watson-Anfrage von mehr als 34.300 gefährdeten Afghan:innen einschließlich ihrer Familienangehörigen, die nach Deutschland eingereist seien.
Doch wie soll es jetzt weitergehen?
"Der Westen muss seiner Verantwortung gerecht werden und lokal arbeitenden Hilfsorganisationen wie 'Help' die Möglichkeit geben, den Menschen in Afghanistan weiterhin zu helfen", fordert Loh.
Besonders für Afghaninnnen sei die Lage dramatisch. Mittlerweile dürfen Frauen in Afghanistan nur sehr eingeschränkt arbeiten und Mädchen ist der Schulbesuch ab der sechsten Klasse untersagt. Dazu kommen Kinderarbeit und Zwangsehen.
"Dass die Mittel für humanitäre Hilfe immer weiter gekürzt werden, verschlimmert die Lage zusätzlich", warnt der Experte.