Heute wählt die Türkei. Mit der Abstimmung wird der von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan betriebene Umbau vom parlamentarischen zum Präsidialsystem abgeschlossen. Erstmals finden die Wahl des Präsidenten und des Parlaments gleichzeitig statt. Beim Wahlausgang sind deshalb Umfragen zufolge verschiedene Szenarien denkbar.
Erdogan gewinnt die Präsidentschaftswahl in der ersten Runde, seine AKP verteidigt ihre absolute Mehrheit im Parlament. Die Opposition befürchtet in diesem Fall eine "Ein-Mann-Herrschaft". Erdogan würde mächtig wie nie, er wäre zugleich Staats- und Regierungschef und könnte per Dekret regieren. Als Vorsitzender der AKP hätte er zugleich die Kontrolle über die Mehrheitsfraktion im Parlament, die ihm bedingungslos folgen dürfte. Seine Macht wäre vermutlich über Jahre hinaus zementiert.
Erdogan verfehlt die absolute Mehrheit bei der Präsidentschaftswahl und muss am 8. Juli in die Stichwahl. Auch in die zweite Runde ginge Erdogan dann als Favorit, er wäre aber angezählt. Niemand weiß, was für Dynamiken das auslösen würde. Die Opposition sähe sich im Aufwind.
Erdogan gewinnt die Stichwahl am 8. Juli, in der er vermutlich gegen den Kandidaten der größten Oppositionspartei CHP, Muharrem Ince, antreten müsste. Seine AKP behält die absolute Mehrheit im Parlament. Erdogans Gewinner-Image wäre zwar angekratzt, das dürfte für ihn aber verkraftbar sein - zumal er sich in den kommenden fünf Jahren keiner Wahl mehr stellen müsste und durchregieren könnte. Auch hier gilt die Sorge der Opposition vor einer Ein-Mann-Herrschaft.
Erdogan verliert die Stichwahl gegen Ince. Nach fast 16 Jahren AKP-Regierung würde die Türkei in ihren Grundfesten erschüttert. Erdogan selbst hat wiederholt gesagt, dass er den Willen des Volkes respektieren werde. Allerdings war ihm das Volk bislang immer mehrheitlich gewogen. Unklar ist, wie seine Anhänger auf einen drohenden Machtverlust reagieren würden. Der Türkei würde mindestens eine Phase der Instabilität drohen. Auch das per Referendum im April vergangenen Jahres beschlossene Präsidialsystem stünde wieder in Frage. Ince hat versprochen, es abzuschaffen. Das wäre ein Kraftakt: Die Verfassung müsste erneut geändert werden.
Erdogan gewinnt die Präsidentschaftswahl in der ersten oder zweiten Runde, die AKP verliert aber die absolute Mehrheit im Parlament. Das Parlament muss den Präsidenten zwar nicht im Amt bestätigen. Dennoch ist Erdogans Präsidialsystem nicht darauf ausgelegt, dass die Opposition die Mehrheit im Parlament hat. Erdogan könnte zwar mit Dekreten regieren. Die Opposition könnte aber Gesetze verabschieden, die diese Dekrete außer Kraft setzen.
Im Idealfall würden Erdogan als Präsident und die Opposition im Parlament politische Kompromisse suchen. Wahrscheinlicher ist, dass sich beide Seiten gegenseitig blockieren. Ein möglicher, aber riskanter Ausweg für Erdogan: Er könnte das Parlament auflösen, müsste sich dann aber auch selber wieder einer Neuwahl stellen. Das Volk ist allerdings wahlmüde. Es wäre die sechste Wahl seit 2014.
Ince gewinnt wider Erwarten die Stichwahl, die AKP hat aber die absolute Mehrheit im Parlament. Auch in diesem Fall würde eine politische Lähmung wie bei Szenario 3 drohen. Allerdings wäre Ince womöglich kompromissbereiter als Erdogan, was die Zusammenarbeit mit dem anderen politischen Lager im Parlament angeht.
Ince gewinnt wider Erwarten die Stichwahl, die AKP verliert zugleich die absolute Mehrheit im Parlament. Auch dann wäre die Frage, wie Erdogans Anhänger reagieren. Außerdem ist die Opposition kein monolithischer Block, sie eint vor allem ihre Gegnerschaft zu Erdogan, der in diesem Fall entmachtet wäre. Im Parlament müssten kemalistische, nationalkonservative, islamistische und pro-kurdische Abgeordnete zusammenarbeiten - nur gemeinsam könnten sie eine Mehrheit gegen die AKP aufbringen.
(pbl/dpa)