Fünf Stunden lang berieten Theresa May und ihre Minister in der Downing Street Nummer 10. Am Ende stärkten sie ihrer Regierungschefin mehrheitlich den Rücken – und stimmten für den Entwurf für ein Austrittsabkommen mit der Europäischen Union, auf das sich die Unterhändler aus London und Brüssel tags zuvor geeinigt hatten.
Zudem machten am Abend Berichte über einen Misstrauensantrag gegen May die Runde. Die Brexit-Anhänger in Mays konservativer Partei seien derart verärgert und würden nun ihre Zurückhaltung gegenüber der Regierungschefin aufgeben, berichteten die BBC und andere Medien. Es gilt jedoch als unwahrscheinlich, dass May ein Misstrauensvotum verlieren würde.
Bei einer Fragestunde im Parlament hatte May das Abkommen zuvor verteidigt. Es sei ein "guter Deal" für Großbritannien, sagte sie. Mays Parteifreund und Erz-Brexiteer Peter Bone warnte hingegen, sie werde "die Unterstützung vieler Konservativer Abgeordneter und Millionen von Wählern verlieren".
Dabei geht es darum, wie Grenzkontrollen zwischen dem britischen Nordirland und dem EU-Mitglied Irland nach dem Brexit vermieden werden können. EU-Chef-Unterhändler Barnier erklärte am Abend in Brüssel, der Deal verhindere eine harte Grenze auf der irischen Insel.
Die Europäische Union besteht auf einer Garantie, dass es keine Kontrollen auf der irischen Insel geben wird. Der sogenannte Backstop stößt aber auf heftigen Widerstand bei den Brexit-Hardlinern in Mays Konservativer Partei und der nordirischen DUP, auf deren Stimmen Mays Minderheitsregierung im Parlament angewiesen ist.
Der nun getroffene Kompromiss sieht Berichten zufolge vor, dass Großbritannien im Notfall zunächst als Ganzes in der Europäischen Zollunion bleibt. Trotzdem scheinen für Nordirland einige weitergehende Bestimmungen vorgesehen zu sein. Das dürfte vor allem die DUP auf die Barrikaden bringen, die sich gegen jegliche Sonderbehandlung Nordirlands sträubt. Zudem fordern die Brexit-Hardliner in Mays Konservativer Partei, dass der Backstop nur für eine begrenzte Zeit gelten dürfe. Beide drohen damit, das Abkommen durchfallen zu lassen.
Zeitgleich mit dem britischen Kabinett tagten in Brüssel die Botschafter der 27 verbliebenen EU-Staaten und ließen sich von der EU-Kommission über den Verhandlungsstand informieren. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker sah die Brexit-Verhandlungen nach der Entscheidung in London fast am Ziel. Er sehe genügend Fortschritt, um die Verhandlungen nun zu beenden, schrieb Juncker bei Twitter.
Die Regierung in London hofft offenbar auf eine sich verstärkende Dynamik, sobald der Deal erst einmal auf Regierungsebene abgesegnet sein sollte. Als nächstes müssen die Regierungschefs der 27 verbliebenen EU-Länder zustimmen, dann wäre der Weg frei für eine Abstimmung über das Abkommen im britischen Parlament.
Sollte der Kompromiss im Parlament in Westminster keine Mehrheit finden, droht ein Austritt ohne Abkommen - mit schweren Folgen für alle Lebensbereiche. Zuerst würde ein solches Szenario aber wohl das Ende der Regierung May bedeuten. Auch eine Neuwahl oder ein zweites Brexit-Referendum werden für diesen Fall nicht ausgeschlossen. Großbritannien wird die Staatengemeinschaft am 29. März 2019 verlassen.
Außenminister Heiko Maas hat die vorläufige Einigung der Verhandlungsführer von Europäischer Union und Großbritannien in den Brexit-Verhandlungen begrüßt: "Das ist eine große Erleichterung. Nach Monaten der Ungewissheit haben wir jetzt endlich ein klares Signal von Großbritannien, wie der Austritt geordnet vonstatten gehen könnte", erklärte Maas am Mittwochabend. Es werde nun aber weiterer Schritte und weiterer Arbeit auf beiden Seiten bedürfen."
Deutschland werde gemeinsam mit den anderen EU-Mitgliedstaaten den vorgelegten Text sorgfältig ansehen und dann im Europäischen Rat darüber entscheiden. "Für uns kommt es darauf an, dass die Regeln des Binnenmarkts nicht angetastet werden. Der Binnenmarkt ist eine zentrale Errungenschaft des europäischen Projekts", so Maas.
Liberalen-Fraktionschef Guy Verhofstadt schrieb auf Twitter, dass die Einigung eine enge Beziehung zwischen der EU und Großbritannien bewahre. Zudem würden Bürgerrechte geschützt, eine harte irische Grenze werde vermieden.
Der Brexit-Beauftragte der EVP-Fraktion im Europaparlament, Elmar Brok, zeigte sich erleichtert: "Das war die letzte Chance, die das britische Kabinett heute Abend wahrgenommen hat", sagte Brok. "Nun geht der Appell an das gesamte britische Unterhaus, Verantwortung über Parteigrenzen hinweg wahrzunehmen, und für den Erfolg einer historischen Vereinbarung zu sorgen."
Der österreichische Kanzler Sebastian Kurz, der derzeit den Vorsitz der EU-Länder führt, kündigte am Mittwochabend an, dass die EU den Brexit-Kompromiss so schnell wie möglich bei einem Sondergipfel prüfen wolle.
Und auch Udo Bullmann, Fraktionschef der Sozialdemokraten, kündigte eine genaue Prüfung des Vertragsentwurfs an: Wenn die von der EU geforderten Prinzipien erfüllt seien, "sollte dies helfen, den Weg für eine enge künftige Partnerschaft zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich zu ebnen".Grünen-Fraktionschefin Ska Keller meinte: "Dieser Text ist das Maximum, was möglich war." Mit der Vereinbarung lasse sich "die schlimmste Form des Brexits" verhindern, nämlich ein Austritt ganz ohne Abkommen. Keller, Verhofstadt und Bullmann sprachen sich dafür aus, die Option für eine Abkehr vom Brexit offen zu halten.
Belgiens Premierminister Charles Michel warnte vor allzu großem Optimismus. Der Brexit-Deal sei ein wichtiger Schritt, aber man sei noch nicht am Ziel, sagte Charles.
Der irische Premierminister Leo Varadkar sagte, er sehe die zentralen irischen Prioritäten in dem Entwurf umgesetzt. Es ginge vor allem darum, den Friedensprozess zwischen Nordirland und Irland zu erhalten. Aber auch darum, die Reisefreiheit zu wahren und den Platz Irlands in der EU zu bestätigen. Größter Streitpunkt in den Brexit-Verhandlungen war die Frage der irischen Grenze.
Der Brexit-Sprecher der ultranationalistischen nordirischen Partei DUP, Sammy Wilson, übte Kritik: "Ich denke, dass die Menschen empört über diesen Deal sein werden." Falls May sich entscheide, Nordirland anders zu behandeln als den Rest den Königreichs, werde das Folgen haben, sagte DUP-Anführerin Arlene Foster.
Der Internationale Währungsfonds (IWF) warnte Großbritannien energisch vor einem ungeordneten Brexit. Der EU-Austritt sei das größte Risiko für die britische Wirtschaft, wenn auch bei weitem nicht das einzige Problem. Auch die deutsche Wirtschaft warnt vor großen Risiken. Der Präsident des Deutschen Industrie- und Handelskammertags, Eric Schweitzer, kommentierte: "Der Brexit wird zwar so oder so zu hohen Kosten für die Unternehmen führen, sei es wegen drohender Zölle oder zusätzlicher Brexit-Bürokratie. Ein ungeregelter Brexit wäre allerdings ein Desaster."
Das sich abzeichnende Brexit-Abkommen könnte aus Sicht der Grünen das reibungslose Funktionieren des EU-Binnenmarkts beeinträchtigen. Wenn die Lösung sei, dass Großbritannien in der Zollunion bleibe, "dann muss die EU sicherstellen, dass ihre Standards nicht unterminiert werden", betonte die Sprecherin für Europapolitik im Bundestag, Franziska Brantner. Die Grünen-Fraktionschefin im Europaparlament, Ska Keller, sagte dem SWR, sie hoffe auf grünes Licht im Kabinett May. "Wir brauchen einen Deal, wir brauchen eine Einigung. Wenn das ein No-Deal-Szenario wäre, wäre das das schlechteste Szenario für alle."
(aj/pb/dpa)