Kevin Kühnert ist am Dienstag der Geduldsfaden gerissen. Den ganzen Tag verbrachte der Jusos-Chef in Chemnitz, um dort über die rechten Demonstrationen zu sprechen. Und dann erreichte ihn die Nachricht zur Beförderung des Noch-Präsidenten des Verfassungsschutzes Hans-Georg Maaßen zum Staatssekretär im Innenministerium.
Kevin Kühnert verstand gar nichts mehr:
Und dabei beließ er es nicht – in einem ARD-Interview setzte der Chef der Jugendorganisation der SPD nach: "Meine persönliche Schmerzgrenze ist
erreicht", sagte er und: "Der Preis ist zu hoch für
den Fortbestand der Koalition."
Und wie schon zuvor folgen dem jungen SPD-Linken auch andere Mitglieder der Partei. Eine davon ist die Spitzenkandidatin der bayerischen Sozialdemokraten und stellvertretende Parteivorsitzende Natascha Kohnen. Sie forderte die Bundesminister der SPD sogar dazu auf, die eigentlich formale Absegnung Maaßens im Kabinett zu verweigern.
Hat Kühnert losgetreten, worauf GroKo-Kritiker wie er schon lange warten? Den Bruch? Wir haben mit Kühnert darüber gesprochen.
Watson: Du hast getwittert, dass man dir heute ein Austrittsschreiben
vor der SPD-Zentrale in Berlin in die Hand gedrückt hat? Kevin Kühnert: Richtig, ich habe noch kurz mit dem Mann gesprochen.
Es war wie so oft bei SPD-Austritten in den vergangenen Jahren. Er sagte, es
würde schlicht nicht mehr gehen und seine Schmerzgrenze sei erreicht. Er hat
uns Jusos viel Glück und Erfolg gewünscht und ging dann. Weniger im Groll,
sondern eher in Verzweiflung.
Du hast am Dienstag selbst von
deiner erreichten Schmerzgrenze gesprochen. Müssen wir mit deinem Austritt
rechnen?
Nein, nein. Ich bleibe. Aber in Hinblick auf die
Große Koalition passt das Wort Schmerzgrenze schon. Ich glaube, dass sich auch
Parteien auf eine solche verständigen müssen. Damit so eine Entwicklung wie am
Dienstag nicht mehr passieren kann, die einfach allen Kopfschmerzen bereitet.
Du bläst ja gerade ordentlich zum
medialen Angriff. Wie schon in früheren Fällen folgen andere Politiker der SPD.
Natascha Kohnen in Bayern etwa, oder Berlins OB Michael Müller, der von einem "peinlichen" Deal sprach. Was ist eigentlich dein Ziel dabei?
Normalisierung zu verhindern.
Wenn wir zulassen, dass öffentlich der Eindruck entsteht, dass solch krumme Deals mit Seehofer der neue Normalfall sind, dann können wir alle miteinander einpacken.
Weil sie Vertrauen untergraben?
Und tiefsitzende Vorurteile gegenüber der Politik bestätigen.
Das darf nicht passieren. Deswegen fordere ich die vielen verärgerten
Mitglieder unserer Bundestagsfraktion und aus dem SPD-Parteivorstand auf, sich
zu äußern. Ich habe mit vielen von ihnen in den vergangenen 24 Stunden
telefoniert – sie sind jetzt in der Verantwortung, ihren Unmut auch in die
Öffentlichkeit zu tragen. Damit wir den Eindruck vermeiden, alle fänden es
eigentlich total Klasse, was da gerade passiert.
Du nennst es einen "krummen Deal" –
aber du hast selbst im Vorfeld enormen Druck auf Andrea Nahles ausgeübt. Sie
stand am Dienstag sozusagen zwischen den Wünschen ihrer Partei und der
Regierung. Dann fand sie einen Kompromiss. Machst du es dir nicht sehr einfach,
sie dafür zu kritisieren?
Ich habe ja schon seit einer ganzen Weile nicht mehr
die Aufkündigung der Koalition gefordert. Es geht mir hier nicht darum, die
NoGroKo-Kampagne mit anderen Mitteln zu Ende zu bringen. Das fände ich auch ein
wenig billig.
Um was geht es dann? Es wird jetzt
gefährlich für die parlamentarische Demokratie. Die öffentlichen Reaktionen
heute bestätigen das. Die Leute sehen im Deal eben nicht einen Kompromiss,
sondern ein politisches Schachspiel à la House of Cards. Spätestens beim Punkt
der höheren Besoldung Maaßens steigen die meisten aus und sagen: Das können wir
nicht mehr nachvollziehen. Es gibt keinen anderen Ort in der Gesellschaft, wo
Leute für Verfehlungen und für offensichtlichen Vertrauensmissbrauch auch noch
belohnt werden. Das wird die nächsten Wochen an den Stammtischen rauf und
runter diskutiert werden. So viel Bürgersprechstunden kann kein Politiker
machen, um diesen Vertrauensverlust wiedergutzumachen.
Aber nochmal, was hättest du anders
gemacht?
Es hätte zwei Alternativen gegeben. Eine hatte
Maaßen selbst in der Hand. Rücktritt aus eigenen Schritten.
Aber das wollte
er ja offenbar nicht.
Stimmt, wollte er nicht. Deshalb wäre die Versetzung
in den einstweiligen Ruhestand der glaubwürdigste Weg gewesen. Die stattdessen
ablaufende Absurdität sieht man heute:
Jetzt muss im Innenministerium ein anderer Staatssekretär in den Ruhestand, der sich überhaupt nichts hat zu Schulden kommen lassen. Das widerspricht allen meinen Vorstellungen von Anstand und Gerechtigkeit.
Hat Andrea Nahles deiner Meinung
nach nicht deutlich genug den Rücktritt gefordert? Seehofer betonte am Mittwoch
mehrmals: Nahles habe ihn bei den Treffen nie darum gebeten, Maaßen zu
entlassen.
Das werde ich in den nächsten Tagen erfragen. Bei
allem Ärger verlasse ich mich da trotzdem noch immer mehr auf das Wort meiner
Parteivorsitzenden, als auf das des CSU-Chefs.
Wird sich Andrea Nahles erklären
müssen?
Wir werden am Montag Sitzung des Parteivorstands
haben und da werden ich und viele andere einige Fragen haben an Andrea Nahles.
Da wird auch die Frage aufkommen, ob der Deal auch noch einmal geändert werden
kann. Das Kabinett muss ja diesen ganzen Personaltausch noch einmal absegnen.
Da würde mich schon interessieren, ob man da das Fass von SPD-Seiten nicht noch
einmal aufmachen kann.
Du schließt dich also der Forderung
von Natascha Kohnen an, die SPD-Minister sollen die Versetzung Maaßens verhindern?
Ich fände es nur fair, wenn der Parteivorstand als
oberstes Gremium der SPD noch einmal die Möglichkeit hätte, sich dazu zu
verhalten. Wenn der dann den Deal so nicht mittragen kann, dann müssen die
Mitglieder der SPD in der Bundesregierung diesem Votum folgen. Die sitzen ja
nicht kraft ihrer eigenen Wassersuppe im Kabinett. Sondern sie sind entsandt
von der SPD und müssen das machen, was der Parteivorstand entschließt.
Das heißt also, der Regierungsstreit
geht weiter.
Das ist Spekulation. Aber es
ist so: In den vergangenen Jahren haben wir es immer wieder versäumt, die
Grenze zu ziehen, wenn wir tief unzufrieden waren mit dem Verhalten unserer
Koalitionspartner. Teils aus Angst, die falschen politischen Kräfte damit stärker
zu machen, teils aus Sorge um weiter fallende Umfragewerte. Aber wir sehen, wie
die AfD trotzdem immer stärker wird und die SPD immer schwächer.
Deswegen müssen wir fragen, ob unsere bisherige Taktik nicht eher dazu beiträgt, dass Leute den Glauben in die SPD verlieren.
Hast du eine konkrete Forderung an
Nahles? Wenn unsere Regierung in den nächsten Tagen und
Wochen irgendwie doch noch überleben sollte, dann muss sie sich zwingend den
Koalitionsvertrag noch einmal vornehmen.
Ihn neu verhandeln?
Eher muss sie ein neues Kapitel anfügen. Dazu
gehört:
Die Mitglieder der Bundesregierung nehmen politische Einschätzungen und
Äußerungen vor und nicht die Chefs von irgendwelchen nachgeordneten Behörden.
Dazu gehört auch eine einheitliche Sprache gegenüber rechtsextremen Umtrieben
in diesem Land, selbst wenn man unterschiedlicher Meinung über die Gesellschaft
ist.
Und dazu gehört, dass es absolut inakzeptabel ist, immer wieder öffentlich
zu spekulieren, dass freie Medien mit Fake News arbeiten würden. Das hat
Seehofer am Dienstag wieder auf einer Konferenz getan.
Beim nächsten Mal, wenn
sowas passiert, braucht die Koalition eine Handhabe und muss sagen können: Nein,
das war nicht die Grundlage unseres Vertrags.
Kommt das
für die SPD nicht zu spät mit Blick auf die Wahlen in Bayern und Hessen? Das glaube ich gar nicht. In
Hessen haben wir eine spannende Entwicklung, die abgekoppelt von den Bruderparteien
abläuft. Da entscheiden die Leute noch einmal anders. Das bietet den Spitzenkandidaten
auch die Möglichkeit zu zeigen, dass sie für einen anderen Stil stehen, als er
in Berlin gerade vorgelegt wird. Was Natascha Kohnen in Bayern heute gesagt
hat, war kein taktisches Manöver. Das war ein bewusstes Statement. Es sollte
deutlich machen, dass sie genervt ist von den Geschehnissen in Berlin. Sie zeigt
damit: Mit ihr gibt es eine Alternative.
Bitte? Die
Sozialdemokraten in den Ländern müssen gegen ihre Schwester im Bund Wahlkampf machen? Niemand würde gerade behaupten, die Bundespartei
gebe gerade Rückenwind für die Wahlen in den Bundesländern. Das Gegenteil ist
der Fall. Das ist beklagenswert, aber ich prophezeihe, dass es unter den
Bedingungen der Großen Koalition schwierig sein wird, diesen Umstand zu ändern.
Wir werden noch eine ganze Weile Landtagskämpfe erleben, die die Distanz suchen
werden zur Bundespartei.
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