Die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen der Türkei sind entschieden.
Knapp 60 Millionen waren zur Wahl aufgerufen, Erdoğan hat mit 52,6 Prozent gewonnen, sein Gegner Muharrem Ince kam auf 31,34 Prozent. Auch Erdoğans Regierungsbündnis von AKP und MHP kommt auf 54 Prozent im türkischen Parlament und damit auf die absolute Mehrheit, die prokurdische Oppositionspartei HDP kam auf 11 Prozent.
Rund um die Wahl gab es jedoch Unruhen und immer wieder war von Unregelmäßigkeiten bei der Stimmenzählung die Rede. Besonders die Opposition warf der Regierung Wahlfälschung vor.
Ismail Küpeli ist Politikwissenschaftler und Historiker. Er analysiert die Konflikte in der Türkei und promoviert gerade an der Ruhr-Uni in Bochum.
Ismail KüpeliBild: privat
watson hat mit Küpeli kurz nach den Wahlen gesprochen
watson: Beim unserem letzten Gespräch
sind Sie davon ausgegangen, dass es eine Stichwahl geben wird. Jetzt ist das Ergebnis anders. Sind Sie überrascht? Ismail Küpeli: Dass Erdoğan vorne liegt, war schon klar. Ich ging
aber wie die meisten von einer Stichwahl aus und dass das Regierungslager im
Parlament keine Mehrheit haben wird. Beides ist nicht eingetreten.
Es gab gut 88 Prozent
Wahlbeteiligung bei der Präsidentschaftswahl und 86 Prozent bei den Parlamentswahlen, relativ viel angesichts der aktuellen Situation, oder? Ja, das ist eine sehr hohe Wahlbeteiligung, deswegen kann das Regierungslager auch von einem "Fest der Demokratie" sprechen. Wenn man davon ausgeht, dass es sich um eine Demokratie handelt, sobald Menschen zur Wahl gehen, ist das hier sicher demokratisch.
Aber dann muss man sich natürlich fragen, welche Qualität diese Wahlen haben und da gibt es eben noch große Fragen.
Gegenkandidat Ince erkennt das Ergebnis an, spricht aber auch
klar von Wahlfälschung. Was waren die genauen Vorwürfe? Es ging einmal um die Wahlsituation durch den unfairen Wahlkampf. Also, dass beispielsweise staatliche Medien für die Regierung Wahlkampf gemacht haben und die Opposition keinen Platz bekommen hat. Bei den Wahlfälschungen gestern geht es um das Stimmen zählen. Bei
der Stimmzählung soll es Unregelmäßigkeiten gegeben haben, unabhängige Wahlbeobachter seien zu Wahllokalen nicht durchgelassen worden und so
weiter.
Eine demokratische Wahl soll ja fair und frei sein.
Diese beiden Aspekte, sagt auch Ince inhaltsgemäß, seien nicht eingehalten und Stimmen geklaut worden.
Ein Kandidat hat sogar Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus gemacht:
Die einen sprechen von Wahlmanipulation, Erdoğan feiert ein 'Fest der Demokratie'. Was kam Ihnen merkwürdig vor? Also zum einen, dass Erdoğan gestern Nacht bekannt gegeben hat, er habe die Wahl gewonnen, bevor die oberste
Wahlbehörde die Ergebnisse bekannt gegeben hat. Normalerweise läuft es ja so: Die oberste Wahlbehörde gibt
die vorläufigen Wahlergebnisse bekannt und die Kandidaten positionieren sich zu
diesen Ergebnissen. Wenn also zwischen uns beiden eine Wahl liefe und ich sagen
würde: Ich habe gewonnen, obwohl die Ergebnisse noch nicht bekannt sind, ist das auch ein Eingriff in die Wahl selbst.
Was die anderen sagen:
OSZE-Mission kritisiert ungleiche Bedingungen.
Die OSZE-Wahlbeobachtermission hat einen "Mangel an gleichen Bedingungen" bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am Sonntag in der Türkei kritisiert. Zugleich kamen die Beobachter der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) aber in ihrem am Montag vorgelegten Bericht zu dem Schluss, dass trotz etlicher Unregelmäßigkeiten am Wahltag die Regeln "weitgehend eingehalten" worden seien. Präsident Recep Tayyip Erdoğan hatte einen klaren Wahlsieg eingefahren.
afp
Was ist nach dieser Deklaration dann passiert? Zu dem Zeitpunkt sind auch Erdoğan-Anhänger teils bewaffnet auf die
Straßen gegangen. Das ist eine Situation, in der sich die Opposition
entschieden muss. Entweder sagt sie: 'Die Wahl wurde gefälscht, wir erkennen die
Ergebnisse nicht an.' Das hätte sie durchaus machen können. Was wiederum aber
auch heißen könnte, dass Erdoğan und seine Anhänger sich wenn
nötig gewaltsam durchzusetzen. Oder sie sagt: 'Das Risiko eines Bürgerkrieges
ist so hoch, dass wir die Wahlergebnisse anerkennen, obwohl wir wissen, dass es
Wahlfälschung gab.' Dafür hat sich die Opposition dann entschieden. Viele inklusive mir hätten sich trotzdem gewünscht, dass eine Äußerung
kommt wie: 'Ja, die Wahlen wurden gefälscht, aber wir wollen keine
Situation riskieren, in der ihr euer Leben für eine Stimmabgabe riskiert. Aber
das war keine demokratische Wahl.'
Der HDP-Kandidat Selahattin Demirtaş äußerte sich aus dem Gefängnis:
Was hätte es bewirkt,
wenn Ince oder andere Oppositionspolitiker das Wahlergebnis offiziell nicht
anerkannt hätten? Zum einen, dass dafür gesorgt wird, dass die Unruhe und
Unzufriedenheit mit der Opposition und der CHP nicht so stark wäre. Einige Wähler fühlen sich jetzt von der CHP verraten und sind enttäuscht. Sie hätten sich
gewünscht, dass mitgeteilt worden wäre: 'Ja, wir haben die Wahl verloren oder
nein, wir haben die Wahl eigentlich nicht verloren.' Was es sicherlich auch bewirkt hätte: Dass es zu massiver
Gewalt auf den Straßen gekommen wäre. Insofern ist es sicherlich keine einfache
Entscheidung. Aber trotzdem ist das eine Abwägung. Will man Ehrlichkeit und Wahrheit
in der Politik oder will man, dass die Lage ruhig bleibt? Das ist eine
Entscheidung, die schwierig ist.
Ich als Nicht-Politiker fände es natürlich schön, wenn die
Fakten auf den Tisch gelegt werden, möglichst transparent. Das hat die
Opposition auch nicht gemacht.
CHP Kandidat Muharrem Ince erkennt das Wahlergebnis anBild: Getty Images Europe
Was hat sie bei dieser Wahl noch überrascht? Nicht die
Stimmzahlen für die AKP, sondern die Stimmen für eine andere Partei: Die MHP. Wenn Sie
sich das genauer anschauen: Die MHP kommt jetzt auf 11 Prozent. Ein Teil der Partei hat sich abgespalten und eine neue Partei, die IYI-Partei, gegründet, die dieselben Wähler anspricht. Und die
IYI-Partei kommt ebenfalls auf 10 Prozent.
Wenn sie das vergleichen zu den Prozentsätzen der letzten
Wahlen: die MHP hat gerade mal 0.9 Prozentstimmenpunkte verloren, obwohl sich
eine neue Gegenpartei gebildet hat mit der IYI-Partei und ein Teil der MHP sich
abgespalten hat. Das ist etwas, das man sich kaum erklären kann, woher die
Stimmen für die MHP kommen.
Die MHP hat nicht großartig Wahlkampf gemacht, es gab keine
großen Auftritte des Parteivorsitzenden Devlet Bahçeli. Ich kann mir schlicht nicht erklären, wie die MHP da auf 11 Prozent kommt.
Das ist kurios und erklärungsbedürftig.
Stellen Sie sich mal vor, in Deutschland würde sich ein Teil
einer Partei einfach abspalten, eine neue Partei gründen und würde dann
fast die gleiche Stimmanzahl wie die Ursprungspartei bekommen. Und die Ursprungspartei
bekommt auch nochmal so viel Prozent. Das ist wirklich merkwürdig, dafür habe ich
schlichtweg keine Erklärung.
Erdoğan-Anhänger feiern das WahlergebnisBild: Getty Images Europe
Wie ist die Stimmung
sonst nach der Wahl, wie geht es den Wählern mit dem Ergebnis? Unterschiedlich. Gerade im Oppositionslager ist man
unzufrieden mit der eigenen Partei. Es gibt auf den Sozialen Medien aber auch durchaus die Haltung: 'Wenn die türkischen Wähler sich so verhalten und sich so für Erdoğan und die
AKP begeistern, sollen sie es doch machen. Wir ziehen uns zurück und die sollen
ihre Suppe selbst auslöffeln.' Unter Erdoğan-Anhängern ist die Stimmung sehr positiv, in
Deutschland gab es viele Feiern unter anderem in Duisburg, wo ich herkomme.
Die HDP-Anhänger feiern dennoch ihren persönlichen Wahlsieg,
da sie all das erreicht haben, was sie sich vorgenommen haben.
Denn die Oppositionspartei HDP ist trotz einem Kandidaten, der aktuell im Gefängnis sitzt, ins Parlament eingezogen. Ja, auch da eine Überraschung: Die HDP hat ihre Stimmen
erhöht und liegt jetzt bei 11,7 Prozent. Das Problem ist, bei der
Parlamentsfrage ging es ja darum, ob das Oppositionslager zusammen mit der HDP die
Mehrheit bekommt. Und dann darüber Gesetze erlassen kann, um Erdogan zu
blockieren. Dafür reicht es definitiv nicht aus, das wird nicht eintreten. Da
müssten Regierungskritiker darauf hoffen, dass sich jetzt eine Reihe von AKP-Politikern gegen Erdoğan stellt und das ist einfach nicht realistisch.
Für die HDP ist es ein Sieg, da viele Mitglieder im
Gefängnis sind, aber es wird nicht so viel bewirken können, weil der Rest der
Opposition so schlecht abgeschnitten hat.
Erdoğan wird jetzt das, was er vorhat, machen können und das recht ungestört.
Das Amt des Ministerpräsidenten ist abgeschafft, das Präsidialsystem
ist in Kraft, was heißt das?
Durch diese Konstellation ist die Rolle des Parlaments als Gegenorgan nicht mehr gegeben, weil dort die AKP das Sagen hat. All das wird so eintreten, wie von Erdogan gewünscht. Es wird parlamentarisch keine Möglichkeiten mehr geben, dagegen zu arbeiten.
Erdoğan mit seiner Frau Emine ErdoğanBild: Getty Images Europe
Kann man jetzt noch von einer Demokratie in der Türkei sprechen? Nein, das war bereits zuvor fragwürdig. Ob man es eine Formaldemokratie, eine
Fragildemokratie oder eine Scheindemokratie nennt. Aber jetzt ist das natürlich
keine Demokratie mehr, sondern eine Autokratie.
Gibt es etwas, das
Sie jetzt unmittelbar erwarten? Erdoğan hatte ja schon angekündigt, den
Ausnahmezustand endlich aufzuheben. Also was sicherlich kommen wird ist, dass er das
Präsidialsystem in allen Bereichen umsetzt. Die Frage ist, ob die Türkei in der
Region weiter militärisch agiert. Auch das würde ich erwarten, das würde sich
damit decken, was vorab gesagt wurde.
Da erwarte ich eine Zunahme militärischer Interventionen unter anderem im
Irak. Die MHP steht ja für eine sehr aggressive Politik auch gegen Kurden.
Ruhiger scheint es
also definitiv nicht zu werden. Haha, nein.
Robert Habeck über Markus Söder: "Er hat einen Crush auf mich"
Für den bayerischen Ministerpräsidenten Markus Söder (CSU) muss letzte Woche im Bundestag wohl eine große Enttäuschung gewesen sein. Er hatte sich auf eine Debatte mit seinem Erzfeind und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) eingestellt. Dieser fehlte aber spontan aufgrund eines Defekts an einem Regierungsflugzeug und Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) musste für ihn einspringen.