Die Lage in Nahost droht weiter zu eskalieren. Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu könnte Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris in eine missliche Lage bringen.Bild: AP / Julia Nikhinson
Israel
Die Anspannung ist groß. Der drohende Vergeltungsschlag des Iran und seiner Verbündeten gegen Israel könnte jeden Moment erfolgen.
Der Iran und seine Verbündeten in der Region haben angekündigt, Israel für die Tötung des Hamas-Auslandschefs Ismail Hanija in Teheran und des Hisbollah-Kommandeurs Fuad Schukr in Beirut vergangene Woche hart zu bestrafen.
Die Ruhe vor dem Sturm: Israel erwartet einen Vergeltungsschlag des Irans.Bild: imago images / Jim Hollander
"Fällt diese stärker aus als im April, die in Israel wenig Schaden anrichtete, wird Israels Reaktion dementsprechend größer ausfallen", prognostiziert Politikwissenschaftler Heinz Gärtner auf watson-Anfrage. Er ist Vorsitzender des Beirates des International Institute for Peace (IIP) und am Institut für Politikwissenschaft an der Universität Wien tätig.
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Israel und Iran: Auf Rache folgt Rache
Zur Erinnerung: Anfang April tötete – mutmaßlich – Israel zwei hochrangige iranische Militärs in der Botschaft des Landes in Syrien mit einem Luftangriff. Auch damals drohte das Mullah-Regime mit Rache und griff Israel mit zahlreichen Drohnen und Raketen an.
Laut Israel konnten die meisten Drohnen und Raketen noch außerhalb des israelischen Staatsgebiets unschädlich gemacht werden. Daraufhin folgte eine israelische Vergeltungsaktion. Es kam zu drei Explosionen in der iranischen Region Isfahan, wo sich nukleare Einrichtungen befinden sollen.
Expert:innen deuteten die israelische Reaktion aber eher als ein Warnsignal als eine Eskalation. Damit war zunächst Ruhe zwischen den beiden Erzfeinden. Nun kommt die Eskalationsspirale aber wieder ins Drehen und diesmal könnte auch der Libanon Öl ins Feuer gießen.
Hisbollah könnte Netanjahu provozieren, USA wollen schlichten
"Auch wenn Irans Vergeltung gemäßigt sein sollte, kann ein Auslöser für eine Ausweitung zu einem größeren Krieg aber von der Hisbollah aus dem Libanon kommen", meint Gärtner. Ihm zufolge könnten wachsende Angriffe der Hisbollah Netanjahu zu massiver Intervention in den Libanon veranlassen.
Der Iran könne dann nicht mehr nur Gewehr bei Fuß stehen, obwohl das Land bisher versucht habe, nicht selbst in einen direkten Krieg mit Israel und sogar mit den USA verwickelt zu werden, sagt der Experte.
Die USA versuchen ebenfalls, einen großen Krieg im Nahen Osten abzuwenden. "Wir führen fast rund um die Uhr intensive diplomatische Gespräche mit einer ganz einfachen Botschaft: Alle Parteien müssen von einer Eskalation absehen", sagt US-Außenminister Antony Blinken.
Obwohl die USA vor einem größeren Krieg warnen, hat Verteidigungsminister Lloyd Austin Israel bereits Unterstützung zugesagt, "was indirekten Sicherheitsgarantien im Falle eines Angriffs auf Israel gleichkommt", sagt Gärtner.
Das könnte laut des Experten die USA tatsächlich in Zugzwang bringen, einzugreifen, nachdem sie bereits ihre Streitkräfte in die Golfregion verlegt haben. Er schätzt die Lage so ein:
"Falls die USA zu zögerlich reagieren, könnte Netanjahu den USA signalisieren, dass Israel ja immerhin noch Nuklearwaffen hätte, wenn es existentiell bedroht ist. Das hatte schon der israelische Verteidigungsminister Moshe Dayan 1973 getan, um von der Regierung Nixon mehr Unterstützung während des Jom-Kippur-Krieges zu erzwingen."
Präsident Biden steht für seine uneingeschränkte Unterstützung für Netanjahu in der Kritik.Bild: GPO / Avi Ohayon
Sprich: Ein Vorwand Israels könnte sein, die iranischen Nuklearanlagen mit kleinen Nuklearsprengköpfen auszuschalten. Aber ein Einsatz von Nuklearwaffen sei für die USA ein Horrorszenario, das sie in jedem Fall verhindern wollen, meint Gärtner.
Der Politikwissenschaftler sieht hinter der "wahrscheinlichen Anordnung der Ermordung" des Hamas-Führers Hanijas durchaus ein Kalkül des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu. Er verfolge damit mehrere Ziele.
Nahostkrieg: Experte erklärt Ziele Netanjahus
"Erstens kann Netanjahu behaupten, dass er sein Ziel, die Terrororganisation zu schwächen, erreicht hat, obwohl die Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Gazastreifen und die Freilassung von Gefangenen inzwischen ins Stocken geraten sind", sagt Gärtner.
Zweitens habe er den neu gewählten, gemäßigten iranischen Präsidenten unterminiert, der sich um eine Verbesserung der Beziehungen zum Westen und eine Wiederbelebung des Nuklearabkommens bemüht hatte.
Drittens demonstriere Netanjahu den USA, dass er unabhängig davon handelt, wer im Weißen Haus sitzt.
"Letztlich könnte Netanjahus Handeln die USA in einen breiteren regionalen Krieg hineinziehen, da Israel an mehreren Fronten kämpft", warnt Gärtner. Für den Wahlkampf der Demokraten wäre dieses Szenario eine Katastrophe.
Schon jetzt löst der Nahostkrieg eine hitzige Debatte in den USA aus. Biden hat bereits aufgrund seiner uneingeschränkten Unterstützung für Netanjahu den Zuspruch unter jungen sowie muslimischen US-Wählenden eingebüßt. Von Linken wird Biden etwa als "Völkermord-Joe" bezeichnet.
Diese Kritik könnte auf seine Vize Harris überspringen, die seine Position als Präsidentschaftskandidatin einnimmt, während sich Trump als "Friedensapostel" brüstet, nach seiner bekannten Devise: "Mit mir wäre all das nicht passiert."
Eine Demonstrantin in Washington hält ein Plakat mit den Worten "Völkermord-Joe". Bild: imago images / Probal Rashid
Die Bilanz des seit Oktober 2023 wütenden Gaza-Krieges ist verheerend. Mehr als 33.000 Menschen wurden nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde bisher im Gazastreifen getötet und knapp 76.000 weitere verletzt. Die Behörde unterscheidet dabei nicht zwischen Zivilist:innen und Kämpfenden.
Nach israelischen Angaben wurden im Gazastreifen rund 12.000 Terroristen getötet, das wären mehr als ein Drittel der Toten. Die Angaben beider Konfliktparteien lassen sich derzeit nicht unabhängig überprüfen.
Am 7. Oktober 2023 begingen Terroristen aus dem Gazastreifen ein Massaker in Israel. Seither herrscht Krieg.