Mit Füßen treten Demonstrierende die Scheiben ein, gehen auf einen Polizisten los. Wutentbrannt rennen Männer und Frauen mit Trump-Fahnen durch das US-Kapitol. In einem Gebäude, das als Symbol der US-Demokratie gilt, jagen sie die Demokratin Nancy Pelosi und den "Verräter" Mike Pence.
"Ich will einfach, dass wir wieder zueinander finden", sagt eine US-Freundin nach dem Sturm auf das Kapitol. In ihren Armen hält sie ihre einjährige Tochter. "Was wird denn aus den USA?" Der 6. Januar 2021 brennt sich bei Millionen US-Amerikaner:innen tief ins Gedächtnis: Es hält schmerzhaft vor Augen, wie gespalten das Land ist.
Seit der Machtübernahme des selbst erklärten Immobilien-Milliardärs Donald Trump ist in den USA nichts mehr wie zuvor. Um seine Person herum hat sich ein Kult entwickelt, die Maga-Bewegung. Maga steht für Trumps Wahlspruch "Make America Great Again".
Menschen in den USA himmeln einen Mann an, der als "Möchtegern-Autokrat" für einen Tag Diktatur spielen will. Einen verurteilten Straftäter, der seine politischen Gegner "Ungeziefer" nennt, das es "auszurotten" gilt. Migrant:innen würden das "Blut des Landes vergiften". Laut Expert:innen bedient sich Trump einer faschistischen Rhetorik.
Der 78-Jährige öffnete die Tür für die religiöse Rechte – bis zum Obersten Gerichtshof. Das nationale Recht auf Schwangerschaftsabbruch in den USA kippte. Kürzlich sprachen die Richter:innen Trump eine teilweise Immunität gegen strafrechtliche Verfolgung zu. Einem Mann, der ein Haufen Anklagen am Hals hat und bis heute an der haltlosen Theorie der "gestohlenen Wahl" festhält.
Seine Anhänger:innen, wie "Project 2025"-Gründer Kevin Roberts, rufen zur Revolution auf und schlagen Blutvergießen vor, wenn Liberale es wagen, sich ihnen in den Weg zu stellen. "Project 2025" ist eine rechtsextreme Initiative, die die nächste republikanische Präsidentschaftsregierung unterstützt.
Mit all dem muss sich Joe Biden als US-Präsident herumschlagen. Er blickt auf ein zutiefst gespaltenes Land und muss die von Trump aufgestellten rechtspopulistischen Maga-Politiker:innen in Schach halten. Viele von ihnen werfen mit Lügen und Verschwörungstheorien nur so um sich.
Bidens Errungenschaften rücken oft in den Hintergrund. Seine Erfolge in der Wirtschaft; das Aufkehren des Scherbenhaufens, den Trump in der Außenpolitik hinterlassen hat; den Schutz der LGBTQ+-Rechte vor der Maga-Meute und ihrer Anti-Woke-Agenda.
An Biden prallen die Nachwehen von Trump ab – und da darf man erschöpft und müde sein. Das ist ein verdammt schwerer Schutzschild, das er über das Land hält – aber er hält ihn nicht allein.
Oftmals gerät in Vergessenheit, die USA wählen nicht nur Biden, sondern die BIDEN-REGIERUNG. Und die ist so divers wie noch nie zuvor mit Frauen, People of Color, Native Americans und Menschen, die für LGBTQ+-Rechte einstehen – und vor allem ist sie jung.
Zur Erinnerung: Trumps Kabinett bestand damals vor allem aus "alten weißen Männern". Biden kündigte darauf ein von Vielfalt geprägtes Team an. "Meine Regierung wird wie Amerika aussehen", versprach er und hielt Wort.
Drei Personen aus dem Biden-Team als Beispiel:
Die US-Innenministerin wurde als erste US-amerikanische "Native American" Teil eines Kabinetts. Sie gehört dem Pueblo of Laguna an und ist New Mexicanerin der 35sten Generation.
Adrianne Todman übernimmt als Person of Color das US-Ministerium für Wohnungsbau und Stadtentwicklung.
Pete Buttigieg ist seit 2021 US-Verkehrsminister. Er schreibt Geschichte als erster offen Homosexueller, der vom Senat bestätigt wurde und ein Ministerium leitet.
Zum Vergleich sollte man sich das ehemalige Team von Trumps Präsidentschaft anschauen. Viele von ihnen wandten sich von ihm ab oder haben selbst die Justiz am Hals. Ex-Mitarbeiter:innen warnen deutlich vor einer Trump-Wiederwahl. Auch Republikaner äußern Zweifel.
Doch bisher war kein Aufschrei nach einem Rücktritt so groß wie nach dem TV-Duell.
Nach der missglückten TV-Debatte gegen Trump rufen US-Medien Biden zum Rücktritt auf. Auch innerhalb der Partei werden Zweifel laut, ob Biden noch der richtige Mann für den Job sei.
Ja, es ist offensichtlich: Dieser Mann hat mit 81 Jahren sprachliche Aussetzer, verhaspelt sich, verwechselt Politiker:innen und hüpft nicht mehr über die Bühne wie ein Jungspund. Was für eine Überraschung! Wussten wir das nicht schon vor einem Jahr?
Ist Biden zu alt? Definitiv.
Sollte er die Koffer packen und den Weg für eine:n Nachfolger:in frei machen? Definitiv.
Ist es zu spät? Absolut.
"Joe Biden ist ein guter Mann und ein guter Präsident. Er muss sich aus dem Rennen zurückziehen", schreibt US-Journalist Thomas Friedman in seinem Meinungsstück für die "New York Times" nach dem desaströsen TV-Duell.
Auf dem Cover der "Time" erscheint Biden, der davon läuft, hinter ihm steht das Wort "Panik". Zahlreiche Medien greifen die Stimmung auf und fordern einen Wendepunkt: Sie wollen Biden in den Ruhestand schicken.
Dieser Aufruf kommt vier Monate vor den US-Wahlen zu spät!
Die Demokraten hätten eine:n Nachfolger:in für Biden vor Jahren aufbauen müssen. Vize-Präsidentin Kamala Harris konnte die Rolle nicht erfüllen. Dabei sahen bei ihrem Antritt als erste Frau in diesem Amt viele in ihr die Zukunft der Partei. Später war sie unbeliebt wie niemand zuvor auf diesem Posten.
Doch es gab Alternativen, zum Beispiel Gavin Newsom, Gouverneur von Kalifornien, oder Gretchen Whitmer, Gouverneurin von Michigan. So kurz vor dem Wahltermin ist ein Last-Minute-Austausch zwar möglich – wie alles in dieser verrückten Wahl – aber es wäre nicht die heilbringende Lösung.
Würde Biden jetzt zurücktreten, könnte das der Partei sogar noch mehr schaden. Davor warnt etwa auch USA-Experte Thomas Greven in einem früheren watson-Gespräch. Ein Verzicht Bidens auf die Kandidatur würde laut ihm eine intensive Auseinandersetzung in der Demokratischen Partei bedeuten. "Das könnte sie weiter schwächen." Auch wäre unklar, wie Parteispender auf einen Biden-Ersatz reagieren würden.
Bereits im August steht der Parteitag der Demokraten an, die Democratic National Convention (DNC). Dort wird der oder die Präsidentschaftskandidat:in erkoren. Die Uhr tickt.
Die Diskussion um Bidens Alter hätte viel früher stattfinden müssen. Jetzt sticht man ihm mit dem Bashing um sein Alter in den Rücken und wirft Trump den Ball zu.
Die USA haben die Wahl: einen Politik-erfahrenen Greis mit einem demokratischen, diversen Team oder einen verurteilten Straftäter mit einem demokratiefeindlichen, LGBTQ+-hassenden, christlich-nationalistischen Kult, der ihn zum König der USA erheben will.
Die Antwort sollte einfach sein, oder? Bei dieser US-Wahl ist nichts normal – aber es geht um alles.
Der ehemalige Präsident hetzt mit Lügen die Leute aufeinander und spaltet selbst Familien. Trump ist ein Virus für die Demokratie – eines, das man nicht so schnell losbekommt.
Je mehr sich die Medien auf Bidens Alter einschießen, desto mehr stärken sie Trump. Wo blieben all die Schlagzeilen nach Trumps Verurteilung, dass er zurücktreten soll? Wo blieb das "Time"-Cover von Trump mit dem Wort: "Panik"?
Bidens Partei steht für Freiheit und Demokratie, während Trump all das stückweise zerstören will. Der Mecker-Zug über Bidens-Alter ist abgefahren. Zur Erinnerung: Die USA wählen nicht Biden, sondern die Biden-Regierung.
Sie ist derzeit die einzige Hoffnung, um die USA weiter zu heilen und wieder zu vereinen, um entschlossen den restlichen Autokraten in der Welt entgegenzutreten.