Am Sonntagabend gegen 19.30 Uhr, – die ersten Hochrechnungen waren allmählich verdaut – sagte eine Freundin, dass jetzt eigentlich der Zeitpunkt sei, in eine Partei einzutreten. Sie erzählte von den AfD-Wählenden, mit denen sie bei ihrer Arbeit auf einer Baustelle so viel zu tun hatte, von mühseligen Gesprächen und der Hilflosigkeit, etwas tun zu wollen. Ein Freund antwortete daraufhin: Er sei jetzt bei den Jusos.
Schaut man sich die Entwicklung der vergangenen Monate an, ergibt sich ein ähnliches Bild: Immer mehr Menschen wollen sich einbringen, mitbestimmen, etwas verändern. Bei der diesjährigen Bundestagswahl haben 82,5 Prozent der Wahlberechtigten von ihrem Recht Gebrauch gemacht – so viele wie noch nie seit der Wiedervereinigung. Vor vier Jahren waren es noch 76,6 Prozent.
Schon nach dem Scheitern der Ampel-Regierung haben etliche Parteien einen enormen Mitgliederzuwachs vermeldet. Die Grünen hatten im November eine Rekord-Mitgliederzahl verzeichnet, die Linke im Februar. Unterdessen sind regelmäßig Millionen von Menschen auf die Straße gegangen, um für den Erhalt der Demokratie zu demonstrieren. Die Teilhabe am politischen Geschehen, sie lebt.
Die Gründe dafür sind erst einmal erwartbar besorgniserregend. Der Wirtschaftshistoriker Adam Tooze hat für unsere Zeit den Begriff "Polykrise" geprägt: mehrere Brandherde gleichzeitig, die nicht einfach nebeneinander existieren, sondern sich gegenseitig beeinflussen.
Rechtsextreme Kräfte nagen an den Grundpfeilern unserer Demokratie, das transatlantische Verhältnis ist Geschichte und bringt die europäische Sicherheitslage ins Wanken – und die Klimakrise schwebt als stiefmütterlich behandeltes Damoklesschwert über dem Weltgeschehen. Außerdem: Rezession, Wohnungsmangel, Verteilungskampf, gesellschaftliche Polarisierung und Bildungskrise.
Nur gibt es für all diese Missstände unterschiedliche Antworten und Erklärungsansätze, außerhalb des demokratischen Spektrums. Die AfD war bei dieser Bundestagswahl die mit Abstand stärkste Kraft bei ehemaligen Nichtwähler:innen und hat ihrerseits Mitgliederrekorde zu verzeichnen.
Zwar mag die Diagnose "Politikverdrossenheit" nicht mehr geltend sein – genauso wenig heißt das aber, dass die Politisierung lediglich demokratischer Natur ist. Die Flut hebt alle Boote.
Und trotzdem ist das verstärkte Interesse am politischen Geschehen unbedingt positiv. Während ihrer Kanzlerschaft fuhr Angela Merkel eine Wahlkampftaktik, die als asymmetrische Demobilisierung bezeichnet wird. Das bedeutet: Indem sie die Kernthemen ihrer politischen Gegner übernahm, vermittelte sie deren Klientel das Gefühl, es mache keinen Unterschied, zur Wahl zu gehen. Die Wahlbeteiligung sank – und mit ihr das Vertrauen in die Demokratie.
Abraham Lincoln definierte Demokratie als "Regierung des Volkes, durch das Volk, für das Volk". Heißt: Der Staat und die Demokratie gründen ihre Existenz darauf, dass sie vom "Volk" anerkannt werden. Deswegen ist eine hohe Wahlbeteiligung so wichtig.
Weil sie die politische Teilhabe und die Legitimität unseres Systems stärkt. Weil das politische Bewusstsein wächst und man sich mit den Herausforderungen unserer Zeit beschäftigt. Weil alle, die wählen, grundsätzlich das demokratische System akzeptieren.
Für die von der AfD mobilisierten Nichtwähler:innen lässt sich schließen: Politische Mobilisierung bedeutet nicht zwangsläufig eine ideologische Verhärtung. AfD-Wähler:innen sind prinzipiell offen für andere politische Angebote. Umfragen bescheinigen der AfD ein Wählerpotenzial zwischen 20 und 25 Prozent auf Bundesebene. Womöglich ist das Fassungsvermögen also bereits ausgeschöpft.
Was man bei all der Blaumalerei auch nicht vergessen darf: Auf eine Person, die die AfD gewählt hat, kommen vier, die sich für eine demokratische Partei entschieden haben.
Die Menschen, die sich für eine demokratische Partei entschieden haben, die sich einbringen und Dinge zum Positiven verändern wollen, sind in der Mehrzahl. Und allem Anschein nach werden es auch mehr.