Wolodymyr Selenskyj wendet sich am Sonntag in einer Videobotschaft an das ukrainische Volk.Bild: AA / Ukrainian Presidency / Handout
Nah dran
28.02.2022, 19:4308.06.2022, 19:47
Normalerweise sieht man sie nicht, die deutschen Stimmen hinter der Reden ausländischer Staatschefs – die Übersetzerinnen bei TV-Übertragungen. Kateryna Rietz-Rakul ist eine von ihnen. Sie hat in der ukrainischen Stadt Lviv Amerikanistik studiert und dolmetscht seit 1999 Konferenzen in Acht- oder sogar Zehn-Stunden-Schichten.
Doch ein Moment ihrer Simultanübersetzung einer Live-Übertragung im Fernsehsender Welt am Sonntag bewegt nun viele Menschen: Als der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Rede hält, bricht Katerynas die Stimme weg. Sie fängt an zu weinen, bittet um Entschuldigung.
"Im ersten Moment dachte ich: Verdammt, jetzt habe ich es vermasselt."
Welt-Übersetzerin Kateryna Rietz-Rakul
"In diesem Moment hat einfach ein Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht", sagt die 43-Jährige im Gespräch mit watson. "Es war gar nicht aufgrund eines speziellen Wortes oder der Sätze, die er gesagt hat. Klar ist er ein guter Redner, aber er hat nichts gesagt, was nicht ohnehin schon bekannt war."
Der Grund sei vielmehr der Gesamtsituation geschuldet gewesen, erzählt sie. "Man sitzt den ganzen Tag in seiner Übersetzer-Kabine und sieht sich Reden an, liest jede News und saugt jede Information in sich auf, während man auf seinen Einsatz wartet. Irgendwann drehst du einfach durch."
Übersetzerin Kateryna Rietz-Rakul.Bild: privat / sofya stoyanovska
Katerynas Familie, ihre Eltern, ihre Freunde, befinden sich aktuell in der Ukraine. Sie lebt in Berlin. "Meinen Eltern geht es zum Glück so weit gut", sagt sie. Dennoch gebe es keine Sekunde, in der sie keine Angst um sie hätte und nicht an sie denken würde. Als die Übersetzerin dann die Rede des ukrainischen Präsidenten übersetzte, wurden ihr die letzten Tage einfach zu viel. "Ich war seit 6 Uhr im Einsatz, habe maximal vier Stunden geschlafen und kann seit Tagen nichts essen, ich habe einfach keinen Appetit", sagt sie.
Übertragung abgebrochen
In seiner rund dreieinhalb-minütigen Rede hatte Selenskyj sich an die Ukrainerinnen und Ukrainer gewandt und forderte, dass Russland im UN-Sicherheitsrat das Stimmrecht entzogen werden sollte. In der Nacht zu Samstag hatten russische Truppen mehrere Städte in der Ukraine angegriffen. "Die letzte Nacht war brutal in der Ukraine", sagte Selenskyj. "Wieder Beschuss, wieder Bombardierungen von Wohngebieten und von ziviler Infrastruktur."
An Russland gerichtet sagte er, der Begriff des Genozids wäre missbraucht worden, um einen Angriff zu rechtfertigen. "Wir fordern eine dringende Entscheidung, die Russland auffordert, die militärischen Aktivitäten jetzt einzustellen, und erwarten, dass die Gerichtsverfahren nächste Woche beginnen."
Als Selenskyj sich dann mit den Worten "Ukrainer, wir wissen genau, was wir zu verteidigen haben", an sein Volk wendete, wurde Kateryna langsamer, sie unterdrückte ein Schluchzen. Schließlich unterbrach sie ihre Übersetzung für mehrere Sekunden. Sie meldete sich weinend und mit einer Entschuldigung zurück, der Nachrichtensender brach seine Übertragung ab.
"Wenn du keinen Appetit hast, dann gibt dir heißer Kakao Kraft."
Kateryna über ihren Einsatz bei Welt
"Mein erster Gedanke in dem Moment war nur: Verdammt, jetzt habe ich es vermasselt", sagt Kateryna zu watson. Die Übersetzung für den Sender Welt sei ihr erster Auftrag eines Nachrichtenmediums gewesen, erzählt sie. "Und das in so einer Zeit! Normalerweise bin ich Konferenzdolmetscherin." Aber schnell wurde klar, es ist ihr niemand böse: "Eine Redakteurin kam direkt in meine Kabine, hat mich umarmt. In der Kaffeepause haben mich Menschen gefragt, wie es mir geht, haben mir nette Worte dagelassen."
"Ich trinke jetzt immer Kakao aus dem Automaten auf der Arbeit. Das hat mir mein Kollege empfohlen. Er schmeckt so schön süß und macht satt", erzählt Kateryna. "Wenn du keinen Appetit hast, dann gibt dir so ein heißer Kakao Kraft."
Gestern Abend wollte Kateryna dann einfach nur noch schlafen. Heute ist sie wieder seit 14 Uhr in der Spätschicht im Einsatz. Doch die Nachrichtenlage nimmt sie weiterhin mit, in Gedanken ist sie bei ihrer Familie.
Auf Twitter schreibt sie: "Ich kam in die ukrainischen Nachrichten, meine 70-Jahre alten Eltern waren so stolz und haben mich angerufen. Wir wurden von einem Luftalarm unterbrochen, meine Eltern mussten Schutz suchen."
Solche Situationen machten ihr Angst, sagt Kateryna gegenüber watson. Aber ihren Eltern gehe es so weit gut, sie höre regelmäßig von ihnen. Sie erzählt:
"Mein Vater will kämpfen. Ich würde mich natürlich freuen, wenn meine Eltern zu mir nach Deutschland kommen würden, aber das ist einfach nicht möglich. Die jüngeren Männer in der Nachbarschaft haben jetzt beschlossen, dass er der sogenannte 'Online-Guide' von ihnen wird. Er durchforstet also alle News und hält sie von der Ferne auf dem Laufenden. Das beruhigt mich sehr."
Kateryna wird zur
"Welt Übersetzerin"
Seit Montag wird die Deutsch-Ukrainerin in den Social Networks gefeiert. "Ganz viel Liebe an die Übersetzerin von Welt!", schreibt die Userin Lucy mit einem gebrochenen Herz-Emoji unter das Video der Übersetzung von Kateryna.
Katerynas Reaktion: Sie benennt sich kurzerhand in "Die Welt Übersetzerin" um. Schließlich "klingt das so schön und ist ja auch unsere Aufgabe", schreibt sie.
Die ukrainische Übersetzerin meldete sich nach ihrem Gefühlsausbruch auf Twitter auch noch einmal selbst zu Wort. Sie schreibt: "Ich bin Konferenzdolmetscherin, ich übersetze zehn Stunden Friedenskonferenzen. Aber heute, live im deutschen Fernsehen, konnte ich die Übersetzung der Rede von Selenskyj nicht zu Ende bringen. Während seiner letzten Worte brach ich in Tränen aus."
Der Tweet hat mittlerweile bereits mehr als 27.000 Likes.
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