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Nach der Einbürgerung zur Bundestagswahl: Wie fühlt sich das an?

In ihrer Heimatstadt Osnabrück hat Rukia Soziologie und Geschichte studiert.
In ihrer Heimatstadt Osnabrück hat Rukia Soziologie und Geschichte studiert. bild: privat / Hilko kuhlmann
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Nach der Einbürgerung zur Bundestagswahl: Wie fühlt es sich an, zum ersten Mal zu wählen?

22.02.2025, 17:42
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Auch wenn sie gerne wählen würden, ist das für viele Millionen, die in Deutschland leben, nicht erlaubt.

Auch für die Osnabrückerin Rukia Soubbotina war das lange nicht möglich. Doch am Sonntag wird sie zum ersten Mal zur Wahl gehen. Die 25-Jährige wurde Anfang Januar eingebürgert, nach vierjähriger Wartezeit.

"Als ich meine Wahlbenachrichtigung im Briefkasten hatte, musste ich sehr weinen, weil ich das erste Mal in meinem Leben dachte: Krass, ich darf jetzt mitmachen. Jetzt bin ich das erste Mal ein gleichberechtigter Teil der Gesellschaft, in der ich groß geworden bin", sagt sie.

Der lange Weg zur Einbürgerung: Rukia ist endlich Deutsch-Russin

Geboren und aufgewachsen ist Rukia in Deutschland, die Staatsbürgerschaft hat sie trotzdem erst jetzt bekommen. Der Grund: ihre Mutter ist russische Staatsbürgerin. Das bedeutete für sie in Folge, nicht automatisch zur Geburt die deutsche zu erhalten. Stattdessen musste sie sich mit russischen und deutschen Behörden auseinandersetzen – bis plötzlich alles doch ganz schnell ging.

Seit dem 7. Januar ist für Rukia Schluss mit den regelmäßigen Botschaftsbesuchen zur Verlängerung der Aufenthaltsgenehmigung. Sie ist jetzt offiziell Deutsch-Russin, hat also die doppelte Staatsbürgerschaft.

Vier Jahre lang hat sie sich um die Staatsbürgerschaft bemüht, wurde erst von der russischen Behörde aufgrund einer Formalie abgewiesen. Dann folgte ein aufwühlender und frustrierender Prozess. Dabei erscheint für Rukia ihr eigener Fall so klar: Mit 11 war sie das letzte Mal in Russland, um ihre dortige Familie zu besuchen – inzwischen sei der Kontakt eingeschlafen. Eine wirkliche Verbundenheit zu Russland spürt sie nicht: "Ich bin in Deutschland geboren, ich spreche mein Leben lang Deutsch, ich bin eher Deutsche als Russin".

Erst 2024 fand die letzte Präsidentschaftswahl in Russland statt, als Staatsbürgerin war sie dort wahlberechtigt. Expert:innen gehen jedoch davon aus, dass die Wiederwahl von Wladimir Putin die am stärksten manipulierte Wahl der letzten 30 Jahre ist, auch eine unabhängige Wahlbeobachtung gibt es nicht mehr. "Außer Putin versus Putin hab ich ja keine Wahl, da kann ich mir den Weg zum russischen Konsulat auch sparen", erklärt Rukia, wieso sie dort nicht wählen war.

Zum ersten Mal wählen: Wie fühlt sich das an?

Unabhängig von der Staatsbürgerschaft engagiert sich Rukia seit Jahren in Deutschland politisch und will dadurch ihren Teil dazu beitragen, den "ungerechten" Zustand der Welt zu verändern.

Nach den Black-Lives-Matter-Protesten kam sie zur Grünen Jugend und war zuletzt Landessprecherin in Niedersachen. Als "komisch" und "paradox" beschreibt sie es, jahrelang trotzdem nicht gewählt haben zu dürfen. "Das war ganz schön frustrierend, weil ich natürlich als Teil der jungen Generation meine Meinung mit meiner Stimme Gehör verschaffen wollte".

Mittlerweile ist sie bei den Grünen ausgetreten: Sie möchte die neue linke Jugendorganisation "Zeit für was Neues" mit aufbauen. Die hatte sich im September 2024 gegründet aus Ex-Mitgliedern der Grünen Jugend, gemeinsam mit Aktiven aus ganz Deutschland.

Als Kind gelernt: Nur die Staatsbürgerschaft kann sie schützen

Rukia wirkt zerrissen, wenn sie davon spricht, jetzt den deutschen Pass zu besitzen, denn sie ist die erste in ihrer Familie, die es geschafft hat.

Ihr kleiner Bruder, ihre kleine Schwester und ihre Mutter haben sich sehr gefreut, als es endlich so weit war. "Sie denken sich halt: immerhin kann Rukia auf irgendeine Art sich und unsere Familie repräsentieren, auch bei der Wahl. Eine Stimme, die uns eigentlich allen zustehen sollte", sagt sie watson. Es löst dennoch Schuldgefühle aus, weil sie es im Gegensatz zu ihren Liebsten jetzt "geschafft" hat.

"Ich werde es nie wirklich genießen können, solange meine ganze Familie nicht vor rassistischen Repressalien beschützt ist. Ich bin eine schwarze Frau, man sieht mir meine Migrationsgeschichte sowieso an. Ich merke aber gerade bei den aktuellen Debatten, dass meine Sorge um meine Familie immer größer wird."

Noch immer kennt sie die Kosten der benötigten Schritte zur Staatsbürgerschaft auswendig: Bearbeitungsgebühren, Deutschkurse und Zertifikate sorgen für eine hohe finanzielle Hürde. Rukia hat etwa 640 Euro vom Moment der Beantragung bis zum Pass zahlen müssen. Kosten, die sich ihre alleinerziehende Mutter nie auf einmal habe leisten können. Sie habe dann abwägen müssen, "ob man das Geld wirklich dafür ausgibt oder doch für die neuen Schulsachen für die eigenen Kinder".

Bereits als Kind hat ihre Mutter ihnen immer wieder gesagt, sie müssen die Staatsbürgerschaft bekommen, erst dann seien sie wirklich sicher in Deutschland. Daran glaubt Rukia nicht. "Als Person, die nicht nur Deutsch ist, hat man immer Angst vor Gesetzen, die dafür sorgen, dass man wieder ausgewiesen wird. Oder auch vor rassistischen Übergriffen".

Bei der Bundestagswahl endlich mitgestalten

Ähnliche Gefühle verspürt sie auch zur Wahl und zum Wahltag selbst: "Ich bin nicht naiv, ich weiß, dass mein Kreuz am 23. nicht alles ändern wird." Aber es ist für sie gerade in dieser Zeit wichtig, wählen zu gehen, denn das gesellschaftliche Klima ist aufgeheizt: "Die von rechter Hetze getriebenen Debatten beziehen sich auf Menschen wie mich oder meine Mama. Ihr redet die ganze Zeit über uns und wir haben nicht mal die Möglichkeit mitzureden".

Bis jetzt. Rukia sieht mit ihrer Stimmabgabe die Möglichkeit, ihrer Familie an der Wahlurne das erste Mal in 25 Jahren Gehör zu verschaffen. Und nicht nur der: Es geht ihr auch um andere Menschen mit Migrationsgeschichte, die die deutsche Staatsbürgerschaft (noch) nicht haben.

Es seien genau die Menschen, die die Gesellschaft aufrechterhalten, indem sie in den prekären Sektoren, wie der Pflege oder in der Nachtschicht, arbeiteten. "Sie haben keine Wahl und müssen einfach ertragen, was geschieht und werden dabei auch noch ausgebeutet. Gerade in Anbetracht der Wahlergebnisse der Rechten fühlt man sich dann nicht nur machtlos, man ist es auch".

Vom Wählen der Rechten und dem Recht des Wählens

Rukia spricht von der Wahl, von möglichen Ausgängen und Folgen, die ihr Angst machen: "Ich möchte nicht, dass diese Wahl historisch wird, weil die AfD zweitstärkste Kraft werden wird. Aber ich glaube, man sollte mit diesem Wissen an die Wahlurne gehen, dass sie das nach der Wahl sehr wohl sein kann."

Große Sorgen bereiten ihr aber auch das Paktieren der Union im Bundestag bei der Debatte um Migrations- und Asylverschärfungen. "Es fühlt sich so an, als wäre eine Mitte-Rechts-Regierung nicht mehr so unwahrscheinlich", schließt sie.

"Ich glaube, hoffnungsvoll kann ich gerade nicht sein, ich hab auf jeden Fall Angst. Gerade für marginalisierte Gruppen wird die Wahl nicht sonderlich gut ausgehen."

Als Deutsch-Russin stellt sie klar: "Die Wahl ist das Mindeste in der Demokratie. Jede:r deutsche Staatsbürger:in sollte das bitte tun". Menschen, die nicht planen zu wählen, bringt sie aber auch Verständnis entgegen: "Wenn die Politik es nicht schafft, Politik so zu gestalten, dass Menschen sie verstehen, dann gehen diese natürlich nicht wählen – wo sollen sie denn dann auch ihr Kreuz setzen?"

Ihren Wahltag hat sie perfekt durchgeplant: Sie hat Freund:innen zu sich eingeladen. "Natürlich" würde sie nicht per Brief wählen, sondern in das Wahlbüro gehen. Sie will den Tag zelebrieren: "Es ist für mich so ein bisschen wie ein halber Geburtstag", sagt sie lachend. "Ich erwarte aber keine Geschenke."

Sachsen und Thüringen: Hitzige Migration-Debatte befeuert Rassismus

Das Thema Migration dominiert den kurzen Wahlkampf. Die schrecklichen Anschläge in Magdeburg, Aschaffenburg und München missbraucht die AfD, um ihre radikale Migrationspolitik zu propagieren. Die in weiten Teilen rechtsextreme Partei schürt Angst und liefert einfache Antworten auf komplexe Fragen.

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