Der Angriff der Ukraine auf die Grenzregion Kursk zeigt Defizite der russischen Verteidigung auf. Während der Vorstoß stetig weiter ins Staatsgebiet vordringt, wirbt Russland händeringend um Soldaten zur Verteidigung und Arbeiter zum Ausheben von Schützengräben.
Wie entblößt die Grenze zur Ukraine zum Zeitpunkt der Gegenoffensive war, offenbart sich mittlerweile der Weltöffentlichkeit. Auf Social Media und internationalen TV-Sendern sind Bilder von blutjungen Soldaten zu sehen, die zu Dutzenden gefesselt und mit verbunden Augen in ukrainischer Kriegsgefangenschaft ausharren.
Denn das Militärpersonal, auf das einfallende Ukrainer:innen in den frühen Morgenstunden des 6. August stießen, war kaum wehrhaft. Statt schwer bewaffneter Soldaten waren für die Verteidigung von Kursk lediglich Wehrpflichtige eingeteilt. Das Thema beherrscht seitdem die öffentliche Wahrnehmung in Russland.
Auf Bildern, die zunächst vom ukrainischen Militärgeheimdienst SBU veröffentlicht wurden, lässt sich leicht ablesen, warum. Bei den rund einhundert festgesetzten Wehrpflichtigen handelt es sich zum großen Teil um blutjunge Männer.
Die 18- bis 30-jährigen Rekruten sind eigentlich nicht für den Kampfeinsatz vorgesehen. Mit rudimentärer Ausbildung und beinahe unbewaffnet, gelten sie als kampfuntüchtige Einheit. Daher versprach Wladimir Putin bereits zu Beginn der Invasion in der Ukraine, dass sich keiner der Wehrpflichtigen im Gefechtsgeschehen wiederfinden würde.
Dieses Versprechen erneuerte er seitdem mehrfach. Dass es gebrochen wird, ist allerdings nicht das erste Mal. Bereits 2022 deckten Journalist:innen auf, dass Wehrpflichtige als Kanonenfutter im Häuserkampf in Charkiw und anderen Schauplätzen verheizt wurden. Putin hatte damals einem Kommandeur die Verantwortung zugeschoben und für Kriegsverbrechen anklagen lassen.
Der US-Sender CNN zitiert eine Frau, die angibt, dass sich ihr Sohn unter den Gefangenen befindet, aus einem russischen Telegram-Kanal: "Als die Grenze um drei Uhr nachts mit Panzern attackiert wurde, waren da nur Wehrpflichtige zur Verteidigung." Unabhängig bestätigen lassen sich weder Personen noch Inhalte in dem Chat.
Das Thema gilt in Russland als eines der wenigen, in dessen Rahmen noch lautstarke Kritik an der autoritären Staatsführung geäußert wird.
Bereits in den 1980er Jahren versammelten sich Soldatenmütter, um gegen den Einsatz ihrer Söhne während der Grundausbildung im Afghanistan zu protestieren. Auch im blutigen Bombenkrieg in Tschetschenien Anfang der 2000er sah Putin von einem Einsatz der Rekruten ab.
In Kursk treffen derzeit Welt aufeinander. Den Wehrpflichtigen, die teils noch im Teenager-Alter sind, stehen die "härtesten, kampferfahrensten Einheiten der Ukraine" gegenüber, wie die "Zeit"-Korrespondentin Olivia Kortas im Podcast "Das Politikteil" berichtete. Entsprechend leichte Beute war die ungeübte Truppe für die einfallenden Eliteeinheiten.
Viele, die sich rechtzeitig vor der Gegeninvasion in Sicherheit bringen konnten, befinden sich allerdings schon wieder im Kampfeinsatz. Das berichtet die "Kyiv Post" in Berufung auf die unabhängige russische Website "Verstka". Eine Soldatenmutter, die sich Marina nennt, beschreibt dort, wie ihr Sohn zur Rückkehr an die Front gedrängt wurde.
Ihr Sohn, der ursprünglich in der Nachbarregion Belgorod stationiert war, sei mit einigen der geflohenen Wehrpflichtigen auf dem Weg an die Front, nachdem er zur Unterzeichnung eines professionellen Soldatenvertrages genötigt worden war. "Er sagt, es sind ungefähr 150 Wehrpflichtige, kaum älter als Kinder, die aus den Geflohenen ausgewählt wurden."
Marina behauptet weiter, dass ihr Sohn und seine Kameraden nicht für den Kampfeinsatz geschult waren. Seine Ausbildung habe darin bestanden, "sechs Monate lang Geschosse zu schleppen und sechs Monate lang Gräben auszuheben." Sie klagte direkt "unseren Präsidenten" Putin wegen falscher Versprechen an und schrieb: "Mein Sohn hat Dinge gesehen, die er nie hätte sehen sollen."
In dem Telegram-Kanal veröffentlicht ein evakuierter Wehrpflichtiger, dass viele seiner Kameraden, die mit Gehirnerschütterungen und ähnlichen Verletzungen zunächst in ein Krankenhaus eingewiesen worden waren, wieder eingezogen wurden.
Unter dem Vorwand, in eine weiter entfernte Region verlegt zu werden, wurden sie kurzerhand mit Verträgen für die Front ausgestattet. "Jeder versteht", schrieb der Rekrut, dass ihre nächste Station der Fronteinsatz in Kursk sei. Für den lebensgefährlichen Einsatz erhalten die unerfahrenen Kämpfer zwischen 18 und 30 Jahren umgerechnet 50 Euro Sold pro Tag.