Und wieder ist es passiert: Eine weitere Eskalationsstufe im Konflikt zwischen Russland und westlichen Staaten ist erreicht. Das Nato-Mitgliedsland Polen gab am frühen Mittwochmorgen bekannt, Kampfflugzeuge gestartet und russische Drohnen abgeschossen zu haben, nachdem diese von der Ukraine aus in den Luftraum des Landes eingedrungen waren.
Nun stellt sich für Polen und die Nato die Frage: Wie darauf reagieren?
Der Vorfall gilt als heikle Eskalation mitten in einer Phase intensiver russischer Luftangriffe auf die Ukraine. Auch international löste er sofort Besorgnis aus – von Brüssel über Washington bis nach Vilnius. Noch ist unklar, wie die Nato auf den möglichen Test ihrer Verteidigungsbereitschaft reagieren wird.
In der Nacht auf Mittwoch drangen nach Angaben des polnischen Militärs "ein Dutzend oder mehr" Drohnen aus Russland in den polnischen Luftraum ein. Mehrere von ihnen wurden abgeschossen, andere stürzten ab. In Wyryki-Wola, nahe der Grenze zu Belarus, riss das Wrack einer Drohne das Dach eines Wohnhauses ab. Verletzt wurde niemand. Der Flugverkehr in Warschau, Modlin und Rzeszów wurde zeitweise ausgesetzt, bevor die Airports am Morgen wieder öffneten.
Polens Premierminister Donald Tusk sprach von einer "Provokation großen Ausmaßes". Er stellte klar, dass es sich um den ersten Einsatz handelte, bei dem russische Drohnen tatsächlich über Nato-Gebiet abgeschossen wurden. "Die Situation ist ernst", sagte Tusk im polnischen Fernsehen, "und das Land ist bereit, solche Angriffe abzuwehren."
Polens Präsident Karol Nawrocki berief am frühen Morgen den Nationalen Sicherheitsrat ein und sprach von einem "Akt der Aggression". Binnen 48 Stunden soll eine umfassende Analyse vorliegen.
Verteidigungsminister Władysław Kosiniak-Kamysz erklärte laut CNN, dass die polnischen und verbündeten Radarsysteme sämtliche Objekte verfolgt hätten. Drohnen, die eine Gefahr darstellten, seien gezielt abgeschossen worden. Die Territorialverteidigungskräfte wurden angewiesen, nach Trümmern zu suchen. Bürger:innen wurden aufgefordert, gefundene Wrackteile sofort zu melden.
Polen war in der Nacht nicht allein: Niederländische F-35-Kampfjets stiegen auf, um die Luftraumverletzungen gemeinsam mit der polnischen Luftwaffe abzuwehren. Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg ließ mitteilen, dass die Allianz "eng mit Polen im Austausch" sei.
Nach Angaben der US-Luftfahrtbehörde FAA war der internationale Flughafen in Warschau aufgrund "ungeplanter militärischer Aktivitäten im Zusammenhang mit der staatlichen Sicherheit" zeitweise geschlossen. Auch das unterstreicht, wie ernst der Vorfall genommen wird.
Expert:innen warnen schon seit Längerem, dass Wladimir Putin in kleinen Schritten testen werde, wie die Nato auf Provokationen reagiert. Der jetzige Vorfall unterstreicht diese Vermutung.
EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas nannte den Drohnenangriff die "schwerwiegendste Verletzung des europäischen Luftraums durch Russland seit Kriegsbeginn". Sie betonte: "Es gibt Anzeichen, dass es absichtlich war, nicht aus Versehen." Damit steht die Vermutung im Raum, dass Moskau gezielt Polens Reaktionsfähigkeit und die Geschlossenheit der Nato testen wollte.
Auch unabhängige russische Militärexperten sehen den Angriff als bewusst gesteuert. Der Analyst Yuri Fyodorov sagte in der Youtube-Sendung "The Breakfast Show" laut "Politico", ein solcher Einsatz sei "ohne die Zustimmung Putins nicht denkbar". Ziel sei es gewesen, Polen und seine Nato-Partner einzuschüchtern und womöglich den Waffentransport in die Ukraine zu stören.
Neben Kaja Kallas meldeten sich sofort mehrere europäische Regierungschefs zu Wort. Belgiens Premier Bart De Wever sagte laut "Politico": "Es ist klar, dass Putin nicht an Frieden interessiert ist. Er provoziert uns, er verspottet uns, und die einzige Reaktion kann sein, die Ukraine noch stärker zu unterstützen."
Auch Schwedens Ministerpräsident Ulf Kristersson reagierte scharf: Russische Drohnen über Polen seien "inakzeptabel". Der litauische Präsident Gitanas Nausėda sprach von einer "bewussten Ausweitung der Aggression", die ganz Europa bedrohe.
Am späten Mittwochvormittag hat die Regierung in Warschau Konsultationen nach Artikel 4 des Nato-Vertrags mit den Verbündeten beantragt. Das bedeutet, dass die Nato-Staaten sich in Brüssel mit der Frage befassen müssen, wie sie den Schutz ihres Luftraums noch enger koordinieren.
Eine Berufung auf Artikel 5 – der Beistandspflicht im Angriffsfall – gilt derzeit als unwahrscheinlich, solange keine Menschen verletzt wurden.
Dennoch stellt der Vorfall die Allianz vor eine heikle Situation. US-Senator Dick Durbin schrieb auf X: "Wiederholte Verletzungen des Nato-Luftraums durch russische Drohnen sind eine klare Warnung, dass Putin unsere Entschlossenheit testet." Sollte Russland diesen Kurs fortsetzen, dürfte die Forderung nach einer robusteren Nato-Präsenz im Osten weiter wachsen.
Kiew verurteilte den Vorfall sofort scharf. Präsident Wolodymyr Selenskyj erklärte, mindestens acht Shahed-Drohnen seien in Richtung Polen geflogen und nannte den Vorfall einen "extrem gefährlichen Präzedenzfall für Europa". Gleichzeitig leidet die Ukraine derzeit unter massiven Angriffen. Insgesamt habe Russland in derselben Nacht mehr als 400 Drohnen und 40 Raketen gegen ukrainisches Gebiet eingesetzt.
Polens Premierminister Donald Tusk wies im Parlament darauf hin, dass erstmals Drohnen direkt aus Belarus in den polnischen Luftraum eingedrungen seien. Bislang waren sie vor allem als Folge russischer Angriffe auf die Ukraine über die Grenze geraten.
Die Sorge wächst, dass Belarus – ohnehin enger Militärpartner Russlands – stärker in die Eskalation hineingezogen wird. Am Freitag beginnen nahe der polnischen Grenze die russisch-belarussischen Manöver "Zapad 25". Tusk kündigte daher an, die Grenze zu Belarus aus Sicherheitsgründen zu schließen, einschließlich der Bahnverbindungen.
Militärexpert:innen gehen davon aus, dass der Angriff eine doppelte Botschaft sendet: Nach innen zeigt Putin Stärke, nach außen soll Verunsicherung gesät werden. Die Drohnen sollen Polen und seine Verbündeten daran erinnern, dass Moskau in der Lage ist, die Sicherheitsordnung Europas jederzeit herauszufordern.
"Das wurde gemacht, um Polen und seine Nato-Verbündeten einzuschüchtern und sie zu zwingen, die Militärhilfe für die Ukraine zu reduzieren", analysierte der russische Militärexperte Yuri Fyodorov.
Mychajlo Podoljak, Berater im ukrainischen Präsidentenbüro, sprach von einer "bewusst eingesetzten Strategie" Russlands, um die Abwehrkräfte des Westens zu testen. Außenminister Andrij Sybiha ergänzte: "Russische Drohnen über Polen zeigen, dass Putins Gefühl der Straflosigkeit weiter wächst."
Für die Nato bedeutet das: Russland testet nicht nur die technische Abwehr, sondern auch die politische Geschlossenheit des Bündnisses.
(Mit Material von dpa und afp)