Seit fast einem Jahr sitzt die AfD von Parteichefin Alice Weidel im Bundestag.imago
Deutschland
Wie die AfD den Bundestag in einem Jahr gruseliger gemacht hat
19.10.2018, 10:5319.10.2018, 14:47
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Dass der Mensch den Klimawandel verursacht, leugnet
die AfD. Im neuen Bundestag haben ihre Abgeordneten selbst kräftig
dazu beigetragen, dass sich das parlamentarische Klima grundlegend
verändert hat.
Knapp ein Jahr ist seit der konstituierenden Sitzung
(24. Oktober 2017) vergangen. Ein Jahr, im dem die Zwischenrufe
bisweilen wie Giftpfeile durch den Plenarsaal geflogen sind. Ein
Jahr, in dem die Abgeordneten der anderen Fraktionen gelernt haben,
Redebeiträge der AfD-ler zu ertragen – so wie man eine Grippe erträgt
oder einen verdorbenen Magen.
Besonders schwer verdaulich finden viele von ihnen die Einlassungen des AfD-Abgeordneten Gottfried Curio.
Bild: dpa
Der Physiker mit dem dunklen
Seitenscheitel hämmert seine Sätze stets mit kalter Präzision in den
Saal. Viele AfD-Anhänger feiern ihn dafür. Auf YouTube ist er ihr
Star. Sie genießen es, wenn Curio im Bundestag sagt, Regierungschefin
Angela Merkel sei eine "Kanzlerin der Ausländer" und gehöre "nicht
länger zu Deutschland".
Curio trägt seine Reden stets ohne den Hauch eines Lächelns vor. Im
Plenum sagt er: "Ein zur Regel entarteter Doppelpass untergräbt Staat
und Demokratie. Das wollen wir nicht." "Entartete Kunst" war während
der Nazi-Diktatur ein Propaganda-Begriff für Kunst, die nicht dem
Ideal der Nationalsozialisten entsprach. Grünen-Fraktionschef Anton
Hofreiter ruft Curio zu: "Schämen Sie sich!" und "Haben Sie denn
überhaupt keinen Anstand?".
Die "Entartung" kennt man auch in der
Quantenmechanik, mit der sich der Physiker Curio gut auskennt. Was
sich der AfD-Obmann im Innenausschuss bei seiner Wortwahl gedacht
hat, weiß nur er selbst. Dass der Hobbymusiker das Spiel mit
Tabubrüchen, Doppeldeutigkeiten und kalkulierten Provokationen
virtuos beherrscht, macht ihn aus Sicht von Politikern, die sich wie
er mit Migration beschäftigen, besonders gefährlich.
Filiz Polat ist Grünen-Obfrau im Innenausschuss. Sie trifft Curio
deshalb auch häufig außerhalb des Plenarsaales in kleiner Runde. Die
Bundestagsabgeordnete aus Niedersachsen sagt: "Curio ist eine der
Speerspitzen der rassistischen und beschämenden Politik, für die
diese Partei steht." Die AfD versuche, rechtsradikales Gedankengut in
der Mitte der Gesellschaft zu verankern. Das dürfe man ihr nicht
durchgehen lassen. Polat sagt, sie vermeide es in den Obleute-Runden
des Ausschusses, Curio direkt anzusprechen. Warum? Sie sagt: "Ich
habe familiäre Wurzeln in der Türkei. Mein Vater ist Muslim. Deshalb
fühle ich mich von Curio und der AfD persönlich angegriffen."
Dass die große Koalition in diesem Bundestag nicht so übermächtig ist
wie in der zurückliegenden Legislaturperiode, hat die Debatten belebt
- da sind sich alle einig. Armin Schuster ist seit 2009 Mitglied des
Bundestages. Der CDU-Innenpolitiker sagt, die Diskussionen seien
jetzt "spannender, pointierter, besser". Ihn störe nur der "rhetorische Hooliganismus" der AfD.
Linda Teuteberg saß von 2009 bis 2013 im Landtag von Brandenburg.
Bild: imago stock&people
Bundestagsdebatten hat die Rechtsanwältin bis zum vergangenen Oktober
nur am Bildschirm verfolgt. Sie sagt, die Debatten im Bundestag seien
jetzt wieder lebhaft und leidenschaftlich, "nachdem es in den
vergangenen Jahren eher langweilig war". Das liege daran, dass mit
FDP und AfD "zwei sehr unterschiedliche Stimmen hinzugekommen sind".
Im Plenarsaal sitzen die FDP-Abgeordneten neben der AfD-Fraktion.
Teuteberg findet das "nervlich sehr anstrengend, wegen der
permanenten Zwischenrufe, die aus dieser Fraktion kommen". Sie sagt: "Es gibt Abgeordnete wie Gottfried Curio, Nicole Höchst und Birgit
Malsack-Winkelmann, da stört mich auch der Ton, den sie in ihren
Reden anschlagen, sehr." Teuteberg hält es dennoch für falsch, wenn
Abgeordnete anderer Parteien oft "stark auf die AfD-Wortbeiträge
eingehen, anstatt für ihre eigenen Ideen zu streiten".
FDP, Linke und Grüne haben in den vergangenen Monaten über alle
ideologischen Gräben hinweg punktuell zusammengearbeitet. Um die
offenen Fragen im Untersuchungsausschuss zum Terroranschlag auf dem
Berliner Weihnachtsmarkt besser beantworten zu können, streiten die
drei Oppositionsparteien vor Gericht gemeinsam für die Freigabe von
Dokumenten. Auch für eine Klage gegen das bayerische Polizeigesetz
haben sie sich zusammengetan. Die AfD kämpft stets für sich alleine.
AfD-Fraktionschefin Alice Weidel fühlt sich dennoch inzwischen nicht
mehr so ausgegrenzt wie zu Beginn. Sie sagt: "Mit der Zeit ist es
natürlich so, dass bei den anderen Fraktionen ein gewisser
Gewöhnungseffekt eingetreten ist, und das Grüßen fällt deren
Abgeordneten immer leichter." Zuletzt hätten allerdings auch die
Beschimpfungen in Richtung AfD wieder zugenommen.
Und wie sieht Weidel ihre eigene Rolle? Sie sagt: "Es stimmt, dass
ich mich auch während der Debatten sehr gut aufregen kann. Das ein
oder andere Mal mag ich wohl auch schon einmal mit dem Finger an die
Stirn getippt haben, sogar mit dem Fuß habe ich schon aufgestampft -
zu recht."
Einig sind sich die vier Oppositionsfraktionen - AfD, FDP, Grüne und
Linke - nur in einem Punkt. Sie alle werfen der von Rivalitäten,
politischem Streit und schmerzlichen Landtagswahl-Ergebnissen
zermürbten großen Koalition seit Monaten vor, sie sei zu stark mit
sich selbst beschäftigt.
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