Nicht ausgrenzen, sondern von Beginn an zusammenführen. Denn: Wenn alle Teil von etwas sind, dann wird der Unterschied zur Normalität. Das ist die Idee der Inklusion. Übertragen auf Schule bedeutet das, behinderte und nichtbehinderte Kinder gemeinsam zu unterrichten. Und zwar von Anfang an.
So viel zur Theorie. Die Praxis allerdings ist da weitaus komplizierter. Denn das traditionell auf Selektion und Dreigliedrigkeit ausgerichtete deutsche Schulwesen tut sich strukturell besonders schwer. Doch der Druck von außen wächst: Seit 2009 ist die UN-Behindertenkonvention in Kraft und Deutschland in der Pflicht, das gemeinsame Lernen von behinderten und nichtbehinderten Kindern zum Regelfall zu machen.
Jedes vierte förderungswürdige Kind in Deutschland lebt im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Doch gerade dort steigen nun immer mehr Gymnasien aus der Inklusion aus. Zuletzt die Alfred-Krupp-Schule in Essen.
Dabei galt die Alfred-Krupp-Schule als Vorzeigeschule in Sachen Inklusion. Sie führte 2011 eine "integrative Lerngruppe" pro Jahrgang ein und war damit das erste Gymnasium in Essen, das die Vorgaben der UN-Behinderten-Rechtskonvention erfüllte.
Jetzt also der Rückzug.
"Die Entwicklung ist so, dass wir beschlossen haben, auch auszusteigen", sagt Schulleiter Berthold Urch gegenüber watson. Zuvor haben schon andere Essener Gymnasien ihren Rückzug erklärt.
Wer verstehen will, was da gerade in NRW passiert und warum, muss ein paar Jahre zurückblicken.
2010 kommt Rot-Grün in NRW an die Macht. Die Grünen-Chefin und spätere Schulministerin Sylvia Löhrmann will das gemeinsame Lernen behinderter wie nichtbehinderter Kinder gemäß der UN-Konvention zum Regelfall machen. 2013 wird der bundesweit erste Rechtsanspruch auf Regelbeschulung behinderter und verhaltensauffälliger Kinder eingeführt. Das Fehlen von Qualitätsstandards jedoch führt zu massiver Kritik. Viele Schulen, Lehrer und Eltern fühlen sich überfordert. 2017 wird Rot-Grün in NRW abgewählt, Schwarz-Gelb kommt an die Macht.
Die neue Schulministerin Yvonne Gebauer (FDP) kündigt im Sommer 2018 dann einen Kurswechsel in der Inklusionspolitik an. Mit dem Ziel, Inklusion an bestimmten Schulen zu bündeln und zielgerichteter zu gestalten. An diesen sogenannten "Schwerpunktschulen" sollen bis 2025 dann auch zusätzliche Stellen geschaffen werden.
Die Folge: Haupt-, Real-, Gesamt-, Gemeinschafts- und Sekundarschulen können künftig nur dann inklusiven Unterricht anbieten, sofern sie feste Qualitätsstandards erfüllen und ein schlüssiges Inklusionskonzept vorlegen.
Für Gymnasien bedeutet das: Inklusion soll laut Ministerium in der Regel "zielgleich" stattfinden. So steht es in einem Erlass des Ministeriums vom 15. Oktober 2018.
Diese aktuell vom Ministerium vorgegebene zielgleiche Inklusion an Gymnasien führt zu einer eine Art "Inklusion light", da Schüler mit Lernbehinderungen ausgenommen sind. Gymnasien sollen sich in der Regel auf Schüler konzentrieren, die das Potential haben, auch tatsächlich Abitur zu machen – also auf Schüler mit körperlichen Einschränkungen, nicht auf solche mit Lernbehinderungen.
Alle inklusiven Bemühungen darüber hinaus werden nicht gefördert. Sie kann die Schule freiwillig anbieten.
Und genau diese Freiwilligkeit hat ihren Preis:
Schulleiter wie Berthold Urch fühlen sich alleine gelassen. Vom Land. Der Politik. Vom Ministerium. Urch begründet den Ausstieg gegenüber watson mit eben dieser fehlender Unterstützung des Ministeriums und mit fehlender materieller Unterstützung von Seiten des Schulträgers. "Wir sind nicht diejenigen, die den Wechsel in der Schulpolitik hervorgerufen haben oder das zu verantworten haben. Wir sind nicht der Auslöser", sagt er. "Unter den vom Land vorgegebenen Bedingungen ist zieldifferente Inklusion an einem Gymnasium nicht mehr möglich."
Für Bernd Kochanek vom Elternverband "Gemeinsam leben, gemeinsam lernen – der Inklusionsfachverband" ist der Rückzug der Gymnasien aus der Inklusion von der Landesregierung gewollt, weil die Gymnasien nicht mehr verpflichtet seien, zieldifferente Kinder, also Kinder mit Lernbehinderungen, aufzunehmen.
Das widerspräche der UN-Konvention und habe auch Konsequenzen für zielgleiche Kinder, sagt Kochanek watson. "Wenn ich die Gruppe mit dem größten Förderbedarf rausnehme, wird für alle anderen die Lehrerausstattung auch schlechter. Das ist der Einstieg in den Ausstieg." Kochanek befürchtet eine Rückentwicklung in ein Schulsystem der 90er-Jahre: "Eltern werden wieder zu Bittstellern. Ob ihr Kind aufgenommen wird oder nicht, ist dann wieder abhängig vom guten Willen einzelner Lehrer und der jeweiligen Schule." Wenn die Regierung das Schulgesetz und Inklusion ernst nehmen würde, müsste sie Ressourcen in inklusive Bildung stecken. Das Gegenteil sei der Fall, kritisiert Kochanek. "Was gerade passiert, ist ein bewusstes Missverstehen von Inklusion."
Jochen Ott, Schulpolitischer Sprecher der SPD-Landtagsfraktion NRW, fürchtet, dass dem Essener Beispiel weitere Gymnasien in ganz NRW folgen werden. "Essen ist die erste Stadt, wo alle zurückgezogen haben. Köln wird nachziehen. Am Ende womöglich alle", sagt Ott gegenüber watson. Er halte diese Entwicklung für eine Katastrophe. "Die Eltern von Kindern mit Behinderung sind fassungslos. Das ist menschlich zutiefst daneben."
Es sei ja nicht so, dass der inklusive Ansatz an einigen Gymnasien gar nicht funktioniert habe. Allein die Unterstützung sei ausgeblieben.
Der Rückzug der Gymnasien sei in den meisten Fällen kein Zeichen gegen Inklusion, sondern ein Hilferuf, dass die Schulen von Seiten der Politik nicht genug unterstützt würden.
Unterstützung für den Kurswechsel der Landesregierung in der Inklusion kommt von der "Landeselternschaft der Gymnasien in NRW e.V. (LE)", dem größten Elternverband in NRW. "Da sind die richtigen Schritte gemacht", sagt Dieter Cohnen, Vorstandsmitglied der LE und Mitglied des von der LE mitbegründeten Elternbündnisses "Rettet die Inklusion!“.
Die Inklusion unter Rot-Grün sei Politik mit dem Holzhammer gewesen. "So, wie es bisher gemacht wurde, ist es nicht im Interesse der Kinder."
Was gerade in Essen passiere, sei durchaus nachvollziehbar. "Selbstverständlich sind wir für Inklusion!", sagt Cohnen. "Aber wir wollen keine verantwortungslose Inklusion." Der Ansatz, Inklusion müsse an allen Schulen möglich sein, führe unter den gegebenen Bedingungen zu Frustration auf allen Seiten. Cohnens Verband, der über 450 Gymnasien in NRW vertritt, spricht sich für eine zielgleiche Inklusion am Gymnasium aus. Nur die könne ein Gymnasium leisten. Denn das Gymnasium habe zuallererst einen Bildungsauftrag: die Allgemeine Hochschulreife. "Zieldifferente Inklusion am Gymnasium ist für Kinder mit Förderbedarf ein geplanter Abbruch einer Bildungskarriere. Das ist keine Inklusion im Interesse der Kinder."
Der Essener Schulleiter Berthold Urch will den Rückzug seines Gymnasiums nicht als grundsätzliches Nein zur Inklusion verstanden wissen. "Den inklusiven Ansatz werden wir weiterverfolgen", sagt er. Das gilt dann allerdings ab 2020 nur für Schüler, die keine Lernbehinderung haben. Für Kinder also, die vom Potential her das Gymnasium mit dem Abitur beenden.