Özil geht, der Hambacher Forst bleibt, Chemnitz schreckt auf – 2018 war turbulent. Auch für uns: watson.de startete im März. Auf einige Geschichten sind wir seitdem besonders stolz. Wie auf diese hier:
Als Jusos-Chef Kevin Kühnert die Stufen zu seinem alten Zuhause erklimmt,
ist die erste Halbzeit schon vorbei. Es schüttet gerade wie aus Eimern auf das
Spielfeld. Neben Kühnert drängen sich einige hundert Fans in Lila-Weiß unter
das Dach einer Besuchertribüne.
Es ist der letzte Spieltag der Saison im
Mommsenstadion, der Heimat von Tennis Borussia Berlin.
Noch um die
Jahrtausendwende spielte TeBe in der Zweiten, heute geht es auf dem rutschigen Rasen um
die letzte Chance auf den Aufstieg in die Regionalliga, der Gegner heißt Hertha 06 Charlottenburg. TeBe hätte genug
Geschichte für die höhere Klasse, TeBe hätte die Fans, aber TeBe hängt seit Jahren in den unteren Ligen fest.
Die
Fans aus dem harten Kern begrüßen Kühnert so herzlich, als sei er nie
weggewesen. Viele nasse Menschen muss er umarmen. Früher war der 28-Jährige Vorsitzende
bei den aktiven Fans und Mitglied im Aufsichtsrat. Damals gründete Kühnert auch
den Verein "Fußballfans gegen Homophobie" mit. Er war dabei, als die im
Ost-Fußball so oft verhassten "schwulen lila-weißen" Westberliner ihr linkes
politisches Herz entdeckten.
Das war, bevor Kühnert den Vorsitz der jungen Sozialisten in Deutschland
übernahm.
Seit mehr als einem Jahr war er nicht mehr im Stadion. Während
dieser Zeit hat ihn Deutschland als bissigsten Kämpfer gegen die Große
Koalition erlebt, das Times-Magazin hat ihn zu den Top 10 der World Next Leaders
gekürt. Kühnert tourt durch Talkshows, Podien und spricht auf Demos.
Deshalb kommt er auch zu spät zum Spiel, hat sogar das erste Tor für TeBe
verpasst. Diesmal hat die AfD ihn aufgehalten. In Berlin gingen Zehntausende
gegen einen Aufmarsch von Anhängern der rechten Partei auf die Straße – und
auch Kühnert sprach.
In Mitte feierten die Gegner der AfD ein regelrechtes Volksfest:
Auch unser Autor ist seit Jahren Fan von TeBe, zusammen mit Kühnert
hat er sich das Spiel angesehen.
Herausgekommen ist ein Gespräch über den
verzweifelten Kampf von mehr oder weniger verzweifelten Fußballern und
Sozialdemokraten.
watson: Über ein
Jahr kein TeBe mehr, wir haben dich hier vermisst…
Kevin Kühnert: Es ging aus zeitlichen Gründen nicht, war aber auch eine
bewusste Entscheidung, nicht mehr so aktiv im Verein zu sein.
Nicht
einmal als Fan?
Manchmal braucht man ein wenig Distanz. Jeder, der hier lange aktiv
ist, kennt das Wort "TeBe-Depression". Dann zieht man sich eben mal ein Jahr
raus und kommt dann wieder.
Du
weißt, welche Anschlussfrage ich jetzt stellen muss? Ob ich auch eine SPD-Depression habe? Die ist ja chronisch.
SPD-Mitglied zu sein, ist manchmal eine manisch-depressive Angelegenheit. (lacht)
Zu
TeBe gehen viele junge, linksdenkende Menschen, in Berlin demonstrierten heute Zehntausende
gegen die AfD. Wie ordnest du dich ein, bist du mittlerweile mehr
Profi-Politiker als Aktivist von der Straße?
Es gibt Aspekte, bei denen ich mittlerweile "Profi" bin. Mein
Zeiteinsatz, Ebenen, auf denen ich mich bewege, Leute, mit denen ich zu tun habe,
Zugänge, zu denen…
Tebe's Keeper, Stephan Flauder, kommt in schwere Bedrängnis. Hält aber grandios und Kühnert bleibt er selbst:
Du
wolltest gerade erzählen, wo du noch an der Basis Politik machst.
Ich verdiene meinen Lebensunterhalt nicht mit Politik, ich habe auch
keinen Fahrer oder so etwas. Es gibt da nicht diese schöne Welt, in der ich es
mir bequem mache. Ich bin aber auch nicht der Volkstribun, der jetzt allen
erzählt, dass er doch wirklich jeden Tag noch mit der U-Bahn fährt – auch wenn das stimmt.
Als
was möchtest du denn gelten?
Da bekommst du eben keine Politiker-Antwort von mir. Klar muss man in der Politik zielorientiert arbeiten. Aber ich verfolge hier keine Jahrespläne, nach denen ich dann
und dann im Parlament oder in irgendeinem Amt sitze.
TeBe und die SPD haben passenderweise zwei Dinge gemeinsam: Sie sind keine
guten Orte, um Karriere zu machen. Das kommt noch dazu. Wir haben leider zu wenige Leute in der Partei, die das
verstanden haben. Man kann natürlich den immer kleiner werdenden Kuchen fleißig
weiterverteilen, aber irgendwann ist eben kein Kuchen mehr da.
Die SPD
hat so schlechte Umfragewerte wie nie. Mancher würde sagen, an diesem
kritischen Punkt ist die Partei jetzt schon.
Wir sind möglicherweise auf dem Weg dahin. Ich glaube, dass es keine
natürliche Grenze nach unten gibt.
Deine
Aufstiegspläne?
Die eine Idee gibt es nicht. Ich bin auch
nicht sicher, ob ich jetzt schon ein Patentrezept habe.
"Im vergangenen halben Jahr
ist mir klargeworden, dass die Enttäuschung über die SPD viele Gesichter und
Geschichten hat."
Die Agenda-Politik hat bei manchen zu viel kaputt gemacht. Anderen
fehlt die Haltung, manche sind für Rot-Grün, manche für die GroKo. Es gibt
keine gemeinsame Linie und deshalb auch nicht die eine Antwort.
Moment, moment. Jetzt warst du wieder tief in der Parteidebatte. Ich habe das
Gefühl, das spielt für die Menschen hier im Stadion und draußen auf der Straße sowieso
keine Rolle mehr. Denen ist die SPD vielleicht einfach egal geworden?
Das ist meine größte Sorge im Moment: Dass uns einfach niemand mehr
zuhört. Dass es rund um die Parteiführung diesen Effekt gibt: 'Aha das
kommt von denen und damit möchte ich es eigentlich gar nicht mehr wissen'. Ich
habe selbst unterschätzt, wie krass diese Haltung verbreitet ist.
Du meinst Andrea Nahles, die du auch zur Partei-Chefin gewählt hast. Das musst du dir wohl vorwerfen
lassen…
Natürlich war
das kontrovers, deswegen habe ich es ja auch vorher öffentlich gesagt. Das ist
ein diskutabler Punkt… Aijaijai
TeBe-Stürmer Karim Benyamina trifft Aluminium und Kühnert wählt Nahles:
Du
wolltest also keine Blackbox wählen, aber deine Wahl, Nahles, tut sich gerade
mit einem Kurs hervor, der sich nicht links anfühlt. Stichwort: "Wir können
nicht alle aufnehmen." Sie und andere merken teilweise nicht, wie ihnen die Sprache
entgleitet. Scheinbar glauben sie, solche Aussagen würden irgendwie einem
Verfassungspatriotismus entsprechen oder einem republikanischen Geist. Aber in
Wirklichkeit sind es einfach nur Quatsch-Sätze.
Die
den Leuten die Angst vor einem überforderten Staat nehmen sollen.
Ich halte das für brandgefährlich. An so einem Satz 'Wir können nicht
alle aufnehmen' ist echt alles falsch. Weder wollen alle kommen, noch hat jemand
gefordert, dass alle kommen sollen. Man kann doch gar keinen schlimmeren Fehler
machen. Es wird
damit ein Thema aufgerufen, das gar nicht auf dem Tisch liegt und eine Position
vertreten, die ja am Schluss nichtmal der SPD zugeschrieben wird.
Hast
du eine Erklärung dafür?
Getrieben sein einfach…
Aber von wem genau? Von...
Lila Weiße, Lila Weiße, Hey! Hey! und Kühnert über "Wir können nicht alle aufnehmen"
Von
der AfD?
Von der öffentlichen Debatte, weil wir seit rund drei Jahren zu wenig entgegenzusetzen haben. Ich finde, wir sollten über unsere Themen reden.
Aber vielleicht gehört auch zur Analyse dazu, dass uns diese Themen im Moment
fehlen. Wir haben Probleme damit, über das große Ganze zu sprechen. Insofern
lassen wir zu, dass die AfD die Agenda bestimmt und wir uns in permanenten
Rückzugsgefechten verstricken. Dafür ist
die Aussage von Andrea Nahles ein Beispiel.
Die
ganze politische Debatte scheint, auch dank des harten "Law-and-Order"-Kurses
der CSU, nach rechts gerückt zu sein.
Wie eine Bugwelle, die immer weiter läuft. Man wird bei der Wahl in
Bayern sehen, wie erfolglos das ist. Aber es macht mürbe. Zig Studien zeigen,
wie wenige Menschen auf diese Debatten abfahren. Und diese Leute wirst du dann
sowieso nicht zurückholen. Dennoch wird zusehends Politik für sie gemacht. Am
Anfang hat die AfD uns allen ein Stöckchen hingehalten und jetzt haben die
demokratischen Parteien angefangen, dieses Stöckchen aufzunehmen und sich
gegenseitig abzunehmen.
Ich
habe im Parlament schon das Gefühl, dass es Widerstand durch alle demokratischen
Parteien hindurch gibt. Da ist es aber auch leicht. Da hast du eine große Mehrheit, die dir zuapplaudiert. Da kannst du eine schön zugespitzte Rede halten und die dann auch
noch ins Internet stellen.
Diese Reden meine ich gar nicht, auch in trockenen Haushaltsdebatten hört man
ordentlich Gegenrede.
Du hörst dir wirklich Haushaltsdebatten an? Das tut mir leid.
Das entspannt mich... Wie gesagt: Auch trockene Fachpolitiker arbeiten gegen
die Polemiken und Halbwahrheiten der AfD. Das
mag stimmen. Aber der entscheidende Schlag gegen den Rechtsruck wird nicht im
Parlament stattfinden. Es ist schade, dass diese Politiker nur im Parlament streiten.
Das eigentliche Problem sitzt aber in der Öffentlichkeit.
"Dort geht es um die
Deutungshoheit und dort betreiben die Spitzenpolitiker der Parteien genau gegenteiliges
Spiel."
So bleiben dann möglichst knallige, verdrehte Aussagen bei den Leuten
hängen, die nicht wie du den ganzen Tag die Haushaltsdebatte anschauen, sondern
vielleicht einmal die Woche Tagesschau.
Und du würdest diesen Leuten konkret sagen…? Dass ihre Probleme nicht daher kommen, dass Politiker sich um die
Flüchtenden kümmern und angeblich nicht um sie. Es gibt seit 20 Jahren in der Politik die
Erzählung, dass der Staat sich mehr zurückhalten muss, weil die Privaten alles
ja viel besser können. Gerade auf dem Land haben viele Menschen die Erfahrung
gemacht, was das bedeutet: Nämlich, dass irgendwann kein Staat mehr da ist.
Das
musst du konkreter erklären.
Busse fahren nicht mehr am Wochenende, Bahnlinien verschwinden,
öffentliche Wohnungen gehen an private Investoren. Es gibt keine demokratischen
Parteien mehr vor Ort. Wenn du mit TeBe zu manchen Klubs im Osten fährst, und
die Rechten da nur auf dich warten, dann weißt du Bescheid. Da liegen die
Themen wortwörtlich auf der Straße.
Kevin Kühnert über Tebe in der Berlin- und in der Oberliga:
Das
sind aber nicht die aktuellen Themen, die im Zusammenhang mit der SPD
diskutiert werden. Heiko Maas fährt eine viel debattierte harte Linie gegen
Russland, Olaf Scholz wird bei seiner Finanzpolitik mit Schäuble verglichen. Über
Nahles hatten wir es ja schon…
Genau, und alle arbeiten sich daran ab. Die Partei steht dauernd im
Widerspruch zwischen Regieren und Nachdenken. Deswegen hielt ich die
Opposition für besser.
TeBe hat Ecke, Kühnert eine ungeliebte Regierung-Position:
Aber
müsste nicht auch mehr von den Bürgern selbst kommen? Du hast sie in einem
Interview mal als "Sitzplatzgesellschaft" kritisiert.
(11 Freunde) Die AfD hat rund 12 bis 13 Prozent
Anhänger. Leute, die aktiv gegen die Partei arbeiten, gibt es ein paar mehr.
Daneben bleibt ein erschreckend hoher Anteil Teilnahmsloser, die selbst solche
krassen Spannungen, wie wir sie gerade erleben, im Grunde ignorieren.
Na
ja, heute gingen in Berlin Zehntausende auf die Straße. Hier in der Kurve
singen Fans "Ganz TeBe hasst die AfD".
Wie gesagt, das sind nicht die Leute, die ich meine. Aber
viel zu viele sind teilnahmslos. Diese Ruhe stört nur mal, wenn
ein Campino den Echo nutzt, um ein Statement gegen Rechts abzugeben. Dann gibt
es kurz aufgeregte Debatten. Und ich wünsche mir nur: mehr davon!
Du könntest ja vielleicht doch noch Pop- oder Fußball-Star werden, statt
Politiker.
Ich glaube, Udo Lindenberg hat das mal gesagt: Es wäre wichtig, wenn
mal eine Helene Fischer den Mund aufmachen würde und zu irgendwas Stellung
bezieht. Ich bin in der angenehmen Lage, sagen zu können: Wir brauchen
Parteien, die sich langfristig engagieren. Es reicht nicht, zu irgendeiner Demo
mal hinzufahren und sich dann zu freuen, dass dann Pegida nicht laufen kann. Es
braucht auch die Leute, die sich dauerhaft mit dem Kram beschäftigen. Die fragen,
wo so eine Entwicklung herkommt, und welche Haltung man damit verbindet. Das
ist mein Job.
Weiter in der Oberliga, aber Kevin Kühnert bleibt
Kurz nach
dieser letzten Aussage des Interviews mit Kevin Kühnert schießt TeBe-Spieler
Thiago Rockenbach da Silva das 2:0 gegen Hertha 06 Charlottenburg. TeBe
gewinnt. Der Liga-Konkurrent Optik Rathenow aber genauso. Leider hat es deshalb
wieder nicht für den Aufstieg von TeBe gereicht. Kühnert will nach der
Sommerpause wieder öfter vorbeikommen.
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