Der Großteil antisemitischer Vorfälle in Deutschland geht von Rechtsextremen aus. Doch wie hoch ist der genau?
Die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland wird jährlich vom Bundesinnenministerium vorgestellt. Zuletzt im Mai dieses Jahres durch Innenminister Horst Seehofer. Antisemitische Straftaten sind im Jahr 2017 laut Kriminalstatistik um 2,5 % gegenüber dem Jahr 2016 angestiegen.
Die Zahlen kommen aus der sogenannten PMK-Statistik. Eine Kriminalstatistik, die politisch motivierte Kriminalität erfasst. Die Daten werden von den Polizeibehörden der Länder erhoben und über die Landeskriminalämter dem Bundeskriminalamt zur bundesweiten Erfassung und Auswertung übermittelt.
Aber: Die Zählweise der Statistik ist nicht unumstritten.
Die Kritiker sagen, die Zählweise sei nicht mehr zeitgemäß und würde den vielen Facetten des Antisemitismus' nicht gerecht. Auch, weil sich Judenfeindschaft aus islamistischen oder linksextremen Quellen speisen kann.
Werden antisemitische Straftaten, bei denen der politische Hintergrund unklar ist, tatsächlich "meistens rechts" eingestuft?
Und: Gibt es einen Automatismus bei der Einordnung antisemitischer Vorfälle, die sich auf den ersten Blick nicht einfach einer Kategorie "links", "rechts" oder "ausländisch" zuordnen lassen?
watson.de hat bei den Landeskriminalämtern nachgefragt.
Wir wollten wissen, in welchen Phänomenbereich beispielsweise eine Schmiererei an einer Hauswand wie "Juden raus" fällt.
Die meisten Behörden antworten uns, dass sie eine solche Schmiererei "rechts" einordnen, sofern keine gegenteiligen Erkenntnisse vorliegen.
Dann wollen wir wissen, ob sich daraus eine grundsätzliche Tendenz ablesen lässt.
Und fragen bei den Landeskriminalämtern nach, ob eine antisemitische Tat automatisch der PMK-rechts zugerechnet wird, wenn sich keine Hinweise auf eine Täterschaft aus einem nichtrechten Spektrum (beispielsweise von links, ein islamistischer Hintergrund etc.) ergeben.
Die meisten Landeskriminalämter bestätigen einen solchen Automatismus. Sofern keine gegenteiligen Tatsachen zur Tätermotivation vorliegen, lande eine solche antisemitische Schmiererei in der pmk-rechts.
Beispiele:
Um eine antisemitische Schmiererei den Rechtsextremen zuzuordnen, reicht es also aus, wenn andere Hintergründe ausgeschlossen werden. Diese Art der Beweisführung ist in der Tat problematisch.
Dass es auch anders geht, zeigt das Land Schleswig-Holstein. Als einziges Bundesland (die Antworten von Thüringen und Rheinland-Pfalz liegen nicht vor) antwortete es uns auf die schriftliche Frage nach dem Automatismus mit einem klaren "Nein". Und weiter: "Wie bereits erwähnt, gilt die Einzelfallprüfung für jede Tat."
Auf Nachfrage bestätigt ein Sprecher des LKA-Schleswig-Holstein, dass antisemitische Straftaten nicht automatisch der pmk-rechts zugeordnet werden, sofern alle anderen Phänomenbereiche ausgeschlossen würden. "Wenn man die Bewertung nicht hat, kann man eine politische Einordnung nicht vornehmen", heißt es dort.
Baden-Würtemberg bestätigt zwar den Automatismus des Definitionssystems: "Gemäß dem 'Definitionssystem Politisch motivierte Kriminalität' werden antisemitische Straftaten dem Phänomenbereich PMK – rechts- zugeordnet, wenn keine gegenteiligen Tatsachen zur Tätermotivation vorliegen." Es handelt aber im Zweifelsfall differenzierter: "Liegen Zweifel vor, wird die Tat in den Bereich 'Politisch motivierte Kriminalität -nicht zuzuordnen' eingeordnet."
In Hamburg landen Fälle, in denen eindeutig keine rechte, ausländische oder religiös ideologische Motivation vorliegt im Phänomenbereich „PMK nicht zuzuordnen“.
Die Praxis zeigt. Einige Landeskriminalämter nutzen den Bereich "nicht zuzuordnen" bei Zweifelsfällen.
Mit dem Automatismus aber, den die Landeskriminalämter bestätigen und mit einer bundeseinheitlichen Regelung erklären, macht sich die Statistik angreifbar.
"Unnötigerweise", sagt die Antisemitismusexpertin Juliane Wetzel. Sie gehörte dem "Unabhängigen Expertenkreis" an, der im April 2017 auf die Probleme bei der Zählweise hingewiesen hatte. Sie weist daraufhin, dass sobald die ausermittelten Fälle in die Statistik mit einbezogen würden, der Anteil antisemitischer Straftaten von rechts weiterhin überproportional hoch bliebe.
Das geht auch aus einer kleinen Anfrage hervor, die der damalige Bundestagsabgeordnete der Grünen, Volker Beck, für das Jahr 2016 und 2017 gestellt hatte (Grafik s.o.): Für das Jahr 2017 wurden bis zum 28. August 2017 von 681 Straftaten 339 ausermittelt, Im Jahr 2016 wurden bis zum 28. August 2016 von 654 antisemitischen Straftaten 400 ermittelte Tatverdächtige gemeldet. Der Anteil der rechten antisemitischen Taten nach Feststellung der Täter war konstant hoch.
"Hakenkreuze oder "Juden raus" kann genauso gut ein Islamist schmieren", sagt Volker Beck watson. "Die Relevanz der Falschzuordnung wird aber überschätzt." Die Antwort auf seine Anfrage zeige, dass es keinen eklatante Auffälligkeiten im Bereich "Ausländer" bei den ermittelten Tatverdächtigen gebe. Das Missverhältnis zwischen Selbstauskünften von Jüdinnen und Juden und der Statistik habe wohl eher damit zutun, dass vieles nicht angezeigt werde.
Bei den Propagandafällen wie einem Graffiti brauche es keinen Strafanzeige, die nehme die Polizei oft automatisch auf. "Die Polizei arbeitet mit Ermittlungshypothesen und da kann sie gerade bei Propagandadelikten auch auf die falsche Fährte geführt werden. Das größere Problem ist womöglich, dass bei Drohungen oder Beleidigungen viele nicht zur Polizei gehen und Anzeige erstatten, weil sie das Gefühl haben, nicht ernst genommen zu werden. Hier muss die Polizei auch andere Signale aussenden.", sagt Beck watson.
Warum die Landeskriminalämter bestimmte Schmierereien automatisch der pmk-rechts zuordnen, erklärt Beck so:
Die Frage bleibt, warum antisemitische Propagandadelikte nach dem Ausschlussprinzip letztlich in der pmk-rechts landen?
Wir haben gefragt:
Warum wird eine Straftat automatisch der PMK-rechts zugeordnet, sofern alle anderen politischen Motive ausgeschlossen werden?
Die Landeskriminalämter verweisen darauf, dass dieses Verfahren bundeseinheitlich abgestimmt sei. So schreibt das LKA Sachsen beispielsweise: "Als Grundlage dienen polizeiinterne Vorschriften, welche bundeseinheitliche Standards definieren."
Das antwortet uns auch das LKA-Berlin."Dass eine antisemitische Tat, bei der keine Rückschlüsse auf einen anderen Phänomenbereich möglich sind, der PMK-rechts zugeordnet werden, ist bundesweit verbindlich geregelt." Weiterführende Auskünfte könnten uns mit Verweis darauf, dass das Regelwerk der Verschlusssachenanweisung unterliege, nicht erteilt werden.
Dass Straftaten zur einheitlichen Registrierung einer Kategorie zugewiesen werden, ist nachvollziehbar. Dass Fälle, die nicht eindeutig zugeordnet werden können, automatisch in der pmk-rechts landen, nicht. Vor allem, weil das Klassifizierungssystem (das Definitionssystem) explizit die Kategorie "nicht zuzuordnen" vorsieht.
Wie viele Fälle es sind, die quasi automatisch der pmk-rechts zugewiesen werden, können die LKAs nicht beantworten, weil keine Zahlen vorliegen. "Um valide Aussagen treffen zu können, bedürfte es einer aufwändigen manuellen Auswertung über mehrere Jahre hinweg", sagt das LKA Baden-Württemberg.
Was sagt das Bundeskriminalamt? Die antisemitischen Straftaten landen wie anfangs erwähnt über die Landeskriminalämter dort.
Wir stellen dieselbe Frage: Warum wird eine Straftat automatisch PMK-rechts zugeordnet, sofern alle anderen politischen Motive ausgeschlossen werden?
"Eine Erfassung von antisemitischen Straftaten automatisch als rechtsextreme Tat ist so also nicht vorgesehen, obliegt jedoch den Polizeidienststellen in den Ländern.", sagt das BKA.
Diese Antwort überrascht dann doch. Die bundeseinheitliche Regelung, mit der die Länder den Automatismus erklären, lässt den Ländern dann doch Spielraum für eine sehr viel differenziertere Einordnung.
"Einen Automatismus oder eine grundsätzliche Zuordnung ohne Würdigung der Tatumstände gibt es bei der Erfassung nicht." Die Erfassung und Bewertung politisch motivierter Kriminalität falle in den Zuständigkeitsbereich der Länder, heißt es aus dem Innenministerium.
Bedeutet übersetzt: Sollte es einen Automatismus geben, liegt das in der Verantwortung der Länder. So hatte es auch das BKA beschrieben.
Bleibt der Eindruck: Das Bundeskriminalamt weiß nicht so recht, was die Landeskriminalämter tun.
Und es gibt viel zu tun: Weiß auch der neueingesetzte Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein. Er ist seit Mai 2018 im Amt und hat sein Büro im Innenministerium. "Der Zustand ist unbefriedigend", sagte Klein watson.de. "Da müssen wir nochmal ran."
Grundsätzliche Kritik an der PMK-Statistik kommt von dem Kriminologen Martin Rettenberger. Er warnt vor der Überinterpretation dieser Zahlen.
Polizeiliche Arbeit sei immer auch polizeilich gesteuert. Legt die Polizei beispielsweise einen Fokus auf einen bestimmten Bereich, nehmen auch die Fälle zu. "Wenn kein Polizist mehr arbeiten würde, hätten wir statistisch gesehen keine Kriminalität mehr. Und wir würden im sichersten Land der Welt leben", sagt Rettenberger. Das bedeutet aber auch: Sofern eine Zahl in der Statistik ansteigt, muss das nicht gleich bedeuten, dass auch die Vorfälle zunehmen. Was auf jeden Fall ansteigt, sei das Problembewusstsein, sagt Rettenberger. Aber selbst die, die die Kriminalstatistik präsentieren, verstehen sie manchmal nicht richtig."
Diesen Eindruck vermittelte auch der "Unabhängige Expertenkreis Antisemitismus" in seiner Handlungsempfehlung 2017. Er empfahl, die Erfassung von antisemitischen Delikten zu verbessern. So sollten Polizei und Justiz mit NGOs und anderen Organisationen kooperieren, um ein möglichst realistisches Bild der antisemitischen Straftaten in Deutschland schaffen zu können. Der Expertenkreis Antisemitismus bezeichnet die PMK-Statistik zwar als "die einzige einheitlich erfolgende Datenerhebung auf einer breiten Informationsgrundlage" und als "wichtiges Mittel der Beobachtung von Hasskriminalität", rät aber, man solle die Zahlen "nicht als Abbild der Realität missverstehen".
Dennoch sahen sie die PMK-Zahlen bisher "als einzige 'belastbare' Statistik zum Ausmaß derjenigen antisemitischen Phänomene, die justiziabel sind".
(Mitarbeit: Max Biederbeck)