Die Abgeordnete Inge Gräßle sitzt seit 2004 für die CDU im Europaparlament. Sie ist Vorsitzende des mächtigen Haushaltskontrollausschusses.
Ein Gespräch über Flüchtlingspolitik, das Klima zwischen CDU und CSU in Brüssel und warum gerade Ungarn und Polen so an den offenen Grenzen im Schengen-Raum hängen.
watson: Frau Gräßle, CSU und
CDU haben sich nach einer nicht gekannten Dramatik über eine gemeinsame
Flüchtlingspolitik verständigt. Wie belastend waren die Debatten zwischen CSU
und CDU der vergangenen zwei Wochen und bleibt da etwas zurück?
Sehr belastend, keine Frage. Wichtig wäre jetzt aber, es wirklich und
endgültig abhaken zu können.
Wie bewerten Sie den erzielten Kompromiss mit den Transitzentren aus europäischer beziehungsweise
europarechtlicher Sicht?
Besondere Aufnahmeeinrichtungen sind mit dem europäischen Recht absolut
vereinbar. Dort muss ein beschleunigtes Asylverfahren inklusive Rechtsmittel
durchgeführt werden. Asylbewerber haben nicht das Recht, sich das Land ihrer
Wahl auszusuchen, da besteht Einigkeit. Solche Verfahren gibt es bislang schon
an Flughäfen. Das wird jetzt auch an der deutsch-österreichischen Grenze
aufgebaut, in Absprache mit Österreich. Ich finde den Kompromiss gelungen, weil
er ein wichtiges Problem löst.
Offen ist die Frage der Rückführungsabkommen. Innenminister Horst Seehofer verhandelt in Wien, Kanzlerin Angela Merkel erwartet Ungarns Premier Viktor Orban. Gerade Länder wie Ungarn und Polen, die in der Flüchtlingspolitik eine restriktive Linie fahren, setzen im Warenverkehr auf
den Schengen-Raum und die offenen Grenzen. Warum?
Beide Länder konnten dank dem freien Personen- und Warenverkehr viel profitieren – die Arbeitnehmer aus Polen und Ungarn pendeln nach Deutschland und Westeuropa und just-in-time Lieferungen etwa macht die Länder als Produktionsstandort attraktiv. Dieses Einbahnstraßendenken ist es ja gerade, was einen aufbringt , dass gerade diese Länder ihre Grenzen schließen wollen, wo sie so stark von offenen Grenzen abhängig sind, wie wir ja auch...
Wird die Gefahr, die
von Grenzkontrollen für ein offenes Europa ausgeht unterschätzt? Auch aus
ökonomischer Sicht, wenn man auf Warenlieferungen und Just-in-time-Produktion
blickt, bei der Grenzkontrollen ein schwer zu kalkulierendes Zeit-Risiko
darstellen...
Viele in der Politik noch nicht bemerkt, dass Migration ein
komplexes Problem ist und vernetzt gesehen werden muss. Die europäische
Wirtschaft ist stark vernetzt und hoch arbeitsteilig. Mental denken
manche aber immer noch, die Autarkie sei was tolles und ein Wirtschaftsmodell
der Zukunft.
Deutschland galt in
Europa immer als stabiler Anker, auch wegen der verlässlichen Innenpolitik. Wie
blicken die Kollegen im Europaparlament nach der Unionsdebatte auf Deutschland?
Die kommenden Wochen werden zeigen, dass die
Bundesregierung und Angela Merkel weiter eine starke Rolle in der EU spielen.
Hilfreich waren die letzten Wochen nicht, keine Frage. Die Deutschen werden
gebraucht, die starke und einigende Stimme der Kanzlerin genauso. Wenn wir
jetzt ein Vakuum hinterlassen, wird das sofort von Frankreich gefüllt.