Blick von außen: Die EU-Grenze zwischen Serbien und Ungarn.Bild: JOKER
Interview
"Egoistisches Eliteversagen" – wie eine Europapolitikerin den Asylstreit sieht
28.06.2018, 00:45
peter riesbeck, brüssel
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Birgit Sippel (SPD) ist seit 2009 Europaabgeordnete. Im Europaparlament befasst sie sich mit innenpolitischen Themen wie dem Asylrecht und Migration.
Was erwartet Merkel auf dem Asylgipfel? Wie stehen die Chancen auf eine europäische Lösung im Asylstreit? Und wie schätzt sie die CSU-Politik "Bayern only" ein?
Birgit SippelBild: birgitsippel.de
watson hat mit Birgit Sippel gesprochen
watson: Frau Sippel, Europa steht vor einem entscheidenden Gipfel, ebenso wie
die Bundeskanzlerin: Sie braucht eine europäische Einigung in der
Flüchtlingspolitik. Dazu gehören Rückführungsabkommen, Frankreich hat ein
solches mit Italien, aber beide Länder haben eine gemeinsame Grenze. Ist ein
Abkommen Deutschlands mit Italien mit EU-Recht überhaupt vereinbar? Birgit Sippel: Eine
solche Rückführung ist auf Dauer keine Lösung. Selbst, wenn wir dazu kommen,
dass die Registrierung von Asylbewerbern in Italien, Griechenland und Bulgarien
besser gelingt als bisher, bleibt die Frage: Nach welchem Schlüssel sollen die
Flüchtlinge auf die EU-Staaten verteilt werden?
Diese Frage müssen die Staats-
und Regierungschefs auf dem Gipfel zuerst beantworten, sonst kommen sie in der
Frage nicht voran. Wir können die Verantwortung für Schutzsuchende Menschen
nicht auf einige wenige Staaten abschieben. Das vielzitierte bilaterale
Abkommen zwischen Frankreich und Italien regelt lediglich den
Informationsaustausch zwischen Grenzbeamten – nicht die Frage der
Zuständigkeit. Im Gegenteil – an der französisch-italienischen Grenze
herrscht derzeit ein Kleinkrieg zwischen den Grenzpolizisten darüber, wer die
Flüchtlinge aufnimmt.
Ein weiterer Punkt in der Debatte sind Asylzentren, etwa in Nordafrika. Der
Völkerrechtler Christian Tomuschat hat da erhebliche Bedenken. Wie ist Ihre
Einschätzung? Solche Auffanglager sind doppelt
unredlich. Zum einen verkennt es die Tatsache, dass die weitaus meisten Flüchtlinge
bereits in anderen Ländern leben, syrische Bürgerkriegsflüchtlinge etwa im
Libanon und Jordanien, Flüchtende aus Libyen im Niger.
Dazu kommt ein
rechtliches Problem: Wer soll die Asylverfahren in diesen Auffanglagern
durchführen? Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR könnte lediglich eine Vorprüfung
durchführen. Wer das eigentliche Verfahren führt, wo geklagt wird, ist völlig
offen.
"Das ist ein Outsourcen von Verantwortung."
Dazu kommt: Die Verteilung der Flüchtlinge auf die EU-Staaten bleibt weiter offen. Das bei uns verankerte Grundrecht auf Asyl würde damit zu einer hohlen Floskel werden.
Gipfel-Demo in Brüssel:
Und wie würde es sich mit Asylzentren in Europa verhalten, etwa im
Nicht-EU-Mitglied Albanien? Die
Bedenken sind die gleichen: Wer soll die Asylverfahren denn in Albanien durchführen
und was geschieht dann mit den Menschen?
Ich halte das ganze Verfahren aber für
unredlich, weil zwei Dinge miteinander verknüpft werden: Eine mögliche Aufnahme
Albaniens in die EU und die Flüchtlingspolitik. Wir lagern hier ein Problem
aus. Europa muss die Verteilung der Flüchtlinge schon selbst regeln. Um diese
Kernfrage können sich die EU-Staaten nicht drücken.
Am vergangenen Sonntag haben 16 EU-Staaten schon mal vorab
Einigungschancen ausgelotet. Könnte es sein, dass diese "Koalition der Willigen"
Schengen – also das kontrollfreie Reisen – nutzt, um Staaten wie Ungarn unter
Druck zu setzen? Ungarns Zuliefererindustrie für die Autoproduktion etwa würde
unter Kontrollen an Binnengrenzen extrem leiden. Diese
Punkte wurden nach meinem Kenntnisstand unter den 16 EU-Staaten bisher noch
nicht besprochen. Zurecht, denn jedes Land würde unter Grenzschließungen
leiden. Es ist naiv und leichtfertig zu glauben, dass ein Wettrüsten an den
Grenzen gezielt einige wenige – wie Flüchtlinge oder die ungarische Zulieferindustrie – adressieren kann.
Was Herr Seehofer jedoch verschweigt: Bürger,
Berufspendler zwischen Mitgliedsstaaten, Handwerker und unsere Wirtschaft
insgesamt werden davon genauso betroffen sein. Die europäische Freizügigkeit
ist eine historische Errungenschaft und kein Ramschartikel, der fahrlässig
verspielt werden kann um Landtagswahlen zu gewinnen.
Wie schätzen Sie generell die Einigungschancen ein?
Ich
sehe durchaus realistische Chancen, sich im Kreis der willigen Länder im Rahmen
einer Zusammenarbeit vieler EU-Staaten auf ein gemeinsames Vorgehen zu
verständigen.
Über die Konsequenzen für die Blockierer müssen wir dann aber
auch nachdenken– die Kommission hat ja bereits über finanzielle Anreize für
Aufnahmeländer oder Kürzungen für weniger Willige nachgedacht. Dauerhafte
Grenzkontrollen im Schengen-Raum sind aber schmerzlich, Europa als grenzenloser
Raum ist nicht nur für viele Grenzpendler eine riesige Erleichterung, auch
mancher regionale Konflikt wurde da entschärft, wenn wir etwa nach Südtirol oder
Irland schauen.
Zur CSU: Wie wird die Politik des „Bayern Only“ in Brüssel wahrgenommen?
Ich halte es insgesamt für
bedenklich, dass Bayerns Ministerpräsident Markus Söder mittlerweile mit
denselben Argumenten hantiert wie Viktor Orban. Noch bedenklicher aber ist
etwas, was wir bereits in der Brexit-Debatte gesehen haben, etwa im Fall Boris
Johnsons. Aus reinem parteitaktischen Kalkül wird ein ganzer Kontinent in
Geiselhaft genommen.
"Das ist ein egoistisches Elitenversagen."
Söder handelt ähnlich. Und er treibt ein gefährliches Spiel, weil er die Wähler in die Arme der AfD treibt und nicht mehr weiß, wie er verbal abrüsten kann. Die Zahlen sagen nämlich etwas ganz anderes: Die Zahl der Flüchtlinge, die nach Deutschland kommen, sinkt rapide.
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