Seit Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine im Februar 2022 häufen sich die Berichte über schwerste Kriegsverbrechen durch russische Truppen. Internationale Organisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch dokumentieren immer wieder Fälle von systematischer Folter, gezielten Hinrichtungen und sexualisierter Gewalt gegen Zivilist:innen.
In Butscha, Isjum und anderen besetzten Gebieten fanden ukrainische Ermittler Massengräber und Folterkeller – Beweise für ein brutales Vorgehen, das gegen das Völkerrecht verstößt. Expert:innen fordern einen internationalen Sondergerichtshof, um die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Häufig mangelt es in diesem Zusammenhang an Beweisen. Ein neuer Bericht des Institute for Study of War (ISW) kann nun aber zumindest das Ausmaß der Grausamkeit belegen, die russische Truppen gegenüber ukrainischen Kindern walten lassen.
Innerhalb des russischen Regierungsapparates kursierten demnach kurz vor dem Einmarsch in die Ukraine Dokumente mit Plänen dazu, wie man ukrainische Waisenkinder für die eigene Politik nutzen soll.
Konkret sollten diese aus den besetzten Oblasten Luhansk und Donezk unter dem Deckmantel "humanitärer Evakuierungen" nach Russland gebracht werden. In speziellen Camps sollten die Kinder anschließend mit russischer Propaganda indoktriniert werden.
Wie hoch das Ausmaß dieser Umsiedlungen ist, lässt sich nur schwer ermitteln. Das "Humanitarian Research Lab" der Universität Yale schätzte die Zahl der entführten Kinder kürzlich auf fast 35.000, die ukrainische Regierung spricht von knapp 20.000 dokumentierten Fällen.
Der Bericht der Yale-Universität bestätigt zudem, dass Russland im ganzen Land mindestens 43 Lager zur Unterbringung entführter Kinder gebaut hat, darunter mindestens 32 explizite "Umerziehungseinrichtungen".
"Russland nutzt diese Lager, um ukrainische Kinder zu indoktrinieren, sie für ihre ukrainische Identität zu bestrafen und ihnen mithilfe von sorgfältig erstellten, vom Kreml genehmigten Lehrplänen und 'militärisch-patriotischen' Ausbildungskursen eine prorussische Gesinnung aufzuzwingen", heißt es laut ISW in dem Bericht.
Der Kreml weist entsprechende Vorwürfe klar zurück. Man habe ukrainische Kinder demnach nur zu ihrer eigenen Sicherheit "aufgenommen". Die russische Kinderrechtskommissarin Maria Lvova-Belova legte offen, dass dies zwischen Februar 2022 und Juli 2023 bei 700.000 ukrainische Kindern der Fall sei. Gegen Lvova-Belova besteht ein Haftbefehl beim Internationalen Strafgerichtshof.
Ein Großteil der entführten Kinder wurde laut dem ISW-Bericht allerdings mittlerweile von russischen Familien zwangsadoptiert. Der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinets spricht von mindestens 400 bestätigten Adoptionen, die tatsächliche Zahl dürfte jedoch höher liegen.
Im Mai 2022 unterzeichnete der russische Präsident Wladimir Putin ein Dekret, das ein vereinfachtes Verfahren zur Erlangung der russischen Staatsbürgerschaft für ukrainische "Kinder ohne elterliche Fürsorge und geschäftsunfähige Personen" vorgesehen hat. In öffentlichen Anzeigen bot man die ukrainischen Kinder zur Adoption frei und suchte so nach "neuen Familien" für sie.
Im Zuge des Adoptionsverfahrens werden den ukrainischen Kindern ihre ursprünglichen Namen entzogen. Mittels neuer Geburtsurkunden und Papiere soll ihre ukrainische Identität gezielt gelöscht werden.
Die russische Regierung will damit wohl auch verhindern, dass ukrainische Behörden oder Angehörige nach den Kindern suchen können. Vor allem Kleinkinder wachsen damit in dem Glauben auf, russische Wurzeln zu haben.
Besonders bizarr ist auch, dass umgesiedelte Jungen im Teenageralter bei Bedarf auch vom russischen Militär eingezogen werden. Es ist damit möglich, dass sie im Krieg gegen ihre eigentlichen Landsleute kämpfen müssen.