Die Stimmung in Deutschland gegenüber Geflüchteten kippt. So zumindest macht es den Anschein: Im Jahr 2022 gab es laut dem Innenministerium deutschlandweit 121 Überfälle oder Angriffe auf Einrichtungen und ihre Bewohner:innen. 2021 waren es 70. Hinzu kommen 1248 Angriffe auf Geflüchtete außerhalb der Einrichtungen. Im ersten Quartal 2023 lag die Zahl der Angriffe höher als in den Vorjahresmonaten.
Immer wieder gibt es Demonstrationen gegen die Aufnahme von Asylbewerber:innen. In Greifswald wurde dem Landkreis per Bürgerentscheid verboten, Flächen für Geflüchtetenunterkünfte zu schaffen. Landkreise und Teile der Bevölkerung warnen vor einem zweiten 2015.
Damals brannte laut der Amadeo-Antonio-Stiftung und ProAsyl jeden dritten Tag eine Geflüchtetenunterkunft. Doch die Gewalt gegen die Schutzsuchenden ist es nicht, vor der Bürger:innen und Kommunen warnen. Stattdessen geht es um die Menge derer, die kommen. Ein Blick auf die Zahlen zeigt jedoch: Die aktuelle Anzahl derer, die einen Asylantrag stellen ist nicht einmal halb so hoch, wie 2015/2016.
2015 wurde der Hass, der Geflüchteten entgegenschlug, mit den frühen 90er Jahren verglichen. Auch damals brannten Geflüchtetenunterkünfte. Auch damals wurden Asylbewerber:innen angegriffen.
Die 90er, 2015/2016, 2022/2023 – die ausufernde Gewalt gegenüber Schutzsuchender wiederholt sich immer wieder.
Was sich ebenfalls wiederholt: Die Rhetorik, die im Zusammenhang mit Geflüchteten angewandt wird. 1992 bezeichnete der damalige CDU-Generalsekretär Volker Rühe die SPD als "Asylantenpartei". Hintergrund: Die Sozialdemokrat:innen wollten beim damaligen Asylkompromiss der Union nicht direkt mitziehen.
Der damalige CSU-Innenminister Hans-Peter Friedrich warnte vor "Asylmissbrauch". Eine Aussage, die auch an Friedrich Merz erinnert, der im vergangenen Jahr von "Sozialtouristen" gesprochen hatte. Und Merz ist damit nicht allein.
Mal ganz abgesehen von populistischen Aussagen der AfD zum Thema Migration und Geflüchtete, verschärft sich auch bei Politiker:innen anderer Parteien der Ton. CDU-Politiker Jens Spahn spricht zum Beispiel im Interview mit der "Welt" von Zeiten der "Rekordmigration". CDU-Fraktionsvize Andrea Lindholz im Bundestag von einer "Migrationskrise". Unvergessen auch die "Vornamen-Debatte" nach den Ausschreitungen in der Silvesternacht in Berlin.
Die wertkonservative Gruppe Vert-Realos innerhalb der Grünen hatte bereits im Februar mit einem Positionspapier zur Migrationspolitik mehr konsequente Abschiebungen gefordert. Andernfalls würde Kriminalität gefördert. Und auch Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung von Frauen "nehmen in bestimmten Tätergruppen aus der Zuwanderergemeinschaft zu", zitiert "Focus.de" aus dem Papier. Innerhalb der Grünen kam dieses Memorandum nicht gut an.
SPD-Politiker Sebastian Fiedler wiederum erklärte im Frühjahr 2022, dass er nicht davon überrascht wäre, wenn sich unter die "Flüchtlingsströme" auch "Terroristen" mischen würden. Auf Geheiß des russischen Präsidenten Wladimir Putin oder dem syrischen Machthaber Baschar al-Assad. FDP-Politiker Wolfgang Kubicki warnte im Gespräch mit dem "Spiegel" unterdessen davor, dass deutlich über die Aufnahme von Geflüchteten gesprochen werden müsse, denn "irgendwann explodiert der Laden".
Der Flüchtlingsrat prangert diese "Das-Boot-ist-voll"-Erzählung von allen Seiten hart an. Das sei gefährlich und lenke von den eigentlichen Problemen ab.
"Argumente, Aussagen, Kritik, Gegenkritik – das, was wir Diskurse nennen, bestimmt selbstverständlich unsere kulturelle und soziale Realität", stellt Jobst Paul gegenüber watson klar. Er ist Sprach- und Kulturwissenschaftler und arbeitet am Duisburger Institut für Sprach- und Sozialforschung. Im Idealfall, meint er, würde es innerhalb dieser Diskurse fair und konstruktiv vorgehen – die Menschen gemeinsam ein Problem angehen und lösen.
"Ich denke, das war die Vorstellung hinter Merkels Motto 'Wir schaffen das!'", sagt Paul. Bis zu einem gewissen Punkt habe das auch geklappt: "Unzählige Menschen krempelten sich 2015 die Ärmel hoch und packten an." Aber, räumt der Wissenschaftler ein, nicht alle Akteur:innen wollen bei diesem Lösungsprozess mitmachen.
So sei diese Form der Politik "nicht nach dem Geschmack von jenen, die soziale, ökonomische oder Umwelt-Krisen nicht so sehr als zu lösende Probleme sehen, sondern eher als Chance, Macht über andere zu gewinnen, indem sie 'Schuldige' aufbauen und eine gesellschaftliche Polarisierung herbeiführen."
Und wie Merkels Satz "Wir schaffen das" beeinflussen auch diese Gegenakteur:innen die Realität der Gesellschaft maßgeblich. Auch wenn die tatsächlichen Probleme liegenblieben, meint Paul, genössen die Strippenzieher:innen so eine gewisse Zeit lang Macht.
Als rhetorisches Mittel würde in diesen Fällen ein "Wir" gegen "Die" eröffnet. Und so ein Bild gezeichnet von Menschen, die von außen eindringen und es auf "die Güter des 'Wir' abgesehen" haben – das wird etwa bei Begrifflichkeiten wie dem "Sozialtourismus" impliziert. Gegebenenfalls kommen diese vermeintlichen Feinde dann auch noch in Massen – die "Rekordmigration".
Paul sagt:
Während Politiker:innen also in ihren Büros sitzen oder auf Bühnen stehen und eine scharfe Rhetorik verwenden, kann sich diese innerhalb der Gesellschaft verselbstständigen und im schlimmsten Fall in tätlichen Angriffen enden.
In den vergangenen Monaten habe die CDU zweifellos versucht, mithilfe einer solchen Rhetorik mit der AfD zu konkurrieren, meint der Experte. "Dieser Versuch erinnert an viele ähnliche Rechtsrucke der CDU und der CSU in den vergangenen Jahrzehnten, die meist zur Stärkung von Rechtsaußen, aber selten zum Machtgewinn von CDU/CSU geführt haben."
Und auch mit der aktuellen Verschärfung der politischen Kommunikation profitiert vor allem eine Partei: die AfD. Aktuell befinden sich die Rechtspopulist:innen in einem Umfragehoch zwischen 18 und 20 Prozent. Gerade haben sie außerdem ihr erstes Landratsmandat gewonnen. Es läuft also.
Dass die AfD ein Hoch hat, sei nicht erstaunlich, meint Paul. Denn die verwendete Rhetorik, auch von demokratischen Politiker:innen signalisiere den Menschen, "dass Rechtsaußen Recht hat und unterstützt werden soll – da wählt man das Original." Erstaunlich sei allerdings, dass die Union diese Folge bisher wohl noch immer nicht verstanden hat – "oder zugunsten kurzfristigen Machtgewinne verdrängt wird."
Gleichermaßen erstaunt den Experten, dass diese "leere" Rhetorik auch bei einem Teil der Bevölkerung immer wieder verfängt. "Vermutlich schlägt sich hier das seit langem zu beobachtende Zurückfahren der Bildungssysteme nieder", schätzt Paul die Lage ein.
Die Widerstände gegen bessere Bildung seien Ausdruck einer politischen Haltung: Das Interesse liege womöglich eher am Gebrauch der Rhetorik, als an der Ausbildung ihrer Kritiker:innen.
Gibt es ein Mittel, um den Kreislauf zu brechen? Aus Sicht von Paul ist die Sache klar:
Die demokratischen Parteien täten demnach gut daran, die scharfe Rhetorik gegenüber Geflüchteten den Populist:innen zu überlassen. Nur so dürfte es gelingen, den harten Umgangston nicht zu normalisieren.