Es muss seltsam sein, ein Film-Drama über das eigene Schicksal zu sehen. Bastian Melcher ist am Montag extra nach Berlin gekommen, um sich die Vorpremiere von „Boy Erased“ anzuschauen. Diese Woche kommt der Film in die Kinos. Darin geht es um einen homosexuellen Jugendlichen in den USA, der von seinen Eltern in eine christliche Heil-Anstalt gesteckt wird – zwei Stunden lang scheitert die Familie daraufhin am verstörenden Versuch, das Schwul-Sein als Solches zu heilen.
Einen Tag nach der Vorführung sitzt Bastian in einem kleinen Konferenzraum mit Blick auf den Reichstag. "In einem einzigen Film lässt sich das Doppelleben, die Einsamkeit und die Zerrissenheit kaum darstellen, die Menschen wie ich jahrelang erleben mussten", sagt der 29-jährige.
Auch Bastian ist in einer zutiefst christlichen Familie in Bremen aufgewachsen. Auch er suchte in seiner Kirchengemeinde nach Hilfe, nachdem ihm seine eigene Homosexualität klar wurde. Damit aber begann eine jahrelang andauernde Odyssee für den damaligen Teenager, die ihn fast das Leben kostete.
Das ist das Schicksal zahlloser Menschen in Deutschland, und erst jetzt rückt es in die Öffentlichkeit. Stück für Stück fangen führende Politiker an zu verstehen, dass vor allem freikirchliche Gemeinden und Ärzte noch immer die sogenannte "Schwulen-Heilung" oder auch "Konversionstherapie" in Deutschland propagieren – und das davon eine ernste Gefahr vor allem für Kinder und Jugendliche ausgeht.
Die Grünen wollen jetzt einen Verbots-Antrag in den Bundestag einbringen, auch Gesundheitsminister Jens Spahn spricht sich dafür aus, dass der Staat eingreifen müsse. Zuletzt stellte sich Justizministerin Katarina Barley demonstrativ hinter eine Aktivisten-Gruppe, die per change.org-Kampagne knapp 80.000 Stimmen für ein Verbot gesammelt hat.
Auch deshalb sucht Bastian gerade die Öffentlichkeit. Der Moment ist günstig, um Aufmerksamkeit zu schaffen: Es soll keine Jugendlichen mehr geben, die sein Schicksal erleiden müssen.
Bastian sagt, er habe über einen längeren Zeitraum hinweg gemerkt, dass er auf Männer stehe. Einordnen konnte er dieses Gefühl damals nicht. Nur eine Sache war ihm klar: "Schwulsein funktionierte für mich nicht, denn Gott hat Mann und Frau erschaffen und nur die Beiden gehören zusammen."
Das lag auch an seiner konservativ christlichen Erziehung. Bastian ging mit zur Kirche, besuchte Kinder- und Jugendkreise, ging auf eine christliche Schule. Seine Familie schloss sich einer evangelikalen Freikirche in Bremen an. Dort, so erzählt der 29-Jährige, wurde die Welt in Gut und Böse unterteilt, in Dämonen und Engel, in Gott und Teufel. Schwulsein gilt in solchen Gemeinden noch immer als unnormal. Auch Bastian lehnte seine eigene sexuelle Orientierung deshalb ab. Noch heute möchte er den Namen der Gemeinde nicht geschrieben sehen. Zu viele aus seinem Freundeskreis und seiner Familie gehören der Gemeinde noch immer an.
Mit 15 Jahren traut sich Bastian einem Jugendpastor an. Der hätte das Leiden des Jungen mit einem einfachen Satz wie "Alles ist völlig ok mit dir" beenden können – stattdessen empfahl der Pfarrer ihm einen "Therapie-Kurs" in einer Nachbargemeinde. Dort könne man homosexuelle Gefühle ändern. Bastian erinnert sich: "Ich wollte unbedingt, dass mich jemand davon befreit, deswegen stimmte ich zu".
Bastians Eltern fanden die Idee gut. Freunde hielten sich heraus oder unterstützten die Entscheidung. Und so ging er zum ersten Mal zu einer Gruppen-Therapie gegen das Schwulsein. Die, so erzählt er, sollte sich mit Themen befassen wie: Wer bin ich eigentlich? Wie sehe ich mich als Mann? Und wie sehen meine Beziehungen zu Eltern, Kirche und Gott aus? Allein diese Fragen versprachen dem verunsicherten Bastian Aufklärung. Ein Weg schien gefunden.
Aber sie waren vergiftet, denn die religiöse Prägung und das soziale Umfeld gaben die Antworten für Bastian. Statt ihn zu bestärken, nährte die "Therapie" Zweifel und Schuldgefühle. Ähnlich erging es anderen jungen Kurs-Teilnehmern, die Probleme mit ihrer Identität hatten, mit ihrer Sexualität oder auch mit Sucht. Immer schwebte über allem ein evangelikaler Soll-Zustand: "Du musst normal im Sinne der Kirche sein – so wie du bist, will Gott dich nicht".
Sechs Monate ging das so, Bastians Betreuer wurden immer frustrierter, weil sich natürlich nichts veränderte. Sie gaben ihm die Schuld dafür, den Weg zu Gott einfach nicht zu finden. Sie schickten ihn zur Einzeltherapie. Dorthin ging er sechs weitere Jahre. Statt Aufklärung gab es Gebete, statt Normalität Schuldzuweisungen.
Bastian vereinsamte, weil sich weiter nichts änderte. Homosexuelle Bekannte verstanden seinen Wunsch nach "Heilung" nicht, seine Kirche wiederum verstand seine Homosexualität nicht. Er selbst sagt heute: "Es gab einen Moment, in dem ich mich so sehr gehasst habe, dass ich daran dachte, mir das Leben zu nehmen."
Dass "Patienten" wie Bastian durch solche Konversionsverfahren Schaden zugefügt werden kann, unterstrich auch die "Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychosomatik" (DGPPN). Sie warnt genau wie die Bundesärztekammer seit Jahren vor den Folgen solcher Methoden. Diese Therapien seien nicht nur unwirksam, sondern auch gefährlich.
In seiner Verzweiflung wendete er sich deshalb nach Jahren des Stillstands an einen gläubigen Arzt. Die Empfehlung kam erneut aus der eigenen Gemeinde. Über Arne E. berichtete ARD-Panorama wenige Jahre später wegen schier unfassbarer Praktiken.
E. selbst streitet die Vorwürfe ab. Auch Bastian erzählt aber von mittelalterlichen Methoden. Etwa eine "Dämonen-Austreibung" habe der Arzt bei ihm vollzogen.
Der Arzt legte dabei die Hand auf Bastians Schulter, betete mal leise, mal laut. "Mal benutzte er andere Sprachen, die man auf dieser Welt nicht kennt", sagt der 29-Jährige. Dann fragte E., ob Bastian irgendwas spüre. "Er sagte dann, dass Rauch aus meinem Rücken aufgestiegen sei, und dass mich Dämonen verlassen hätten." Dann betete der Arzt weiter, weil da noch mehr sei. "Irgendwann sagte er mir, dass da ein ganz großer schwarzer Stachel aus meinem Rücken gekommen sei, der zu Boden falle".
Gesehen hat das Bastian natürlich alles nicht. Aber von klein auf hatte er in seiner Freikirche gelernt, dass es Dämonen gibt. Vielleicht, so dachte er, sei das tatsächlich die Antwort auf all seine Fragen. "Damals glaubte ich tatsächlich: Vielleicht bin ich jetzt nicht mehr schwul", erinnert er sich.
Aber natürlich war er das noch immer. Und wieder fiel Bastian in ein tiefes Loch. Er entschied diesmal, etwas Neues auszuprobieren. Mit einer Freundin besuchte er den CSD in Hannover. Er lernte einen Mann kennen, die Chemie stimmte. Diesen Mann wollte er näher kennen lernen, und deshalb musste eine Entscheidung her. Sollte er den sinnlosen Kampf gegen sich selbst weiterführen, oder einfach zulassen, dass er schwul ist?
Bastian ließ es zu. "Das war wie ein Schalter, plötzlich war ich befreit", erinnert er sich. Eine positive Erzählung und positive Gefühle drängten damals an die Stelle, wo die Kirche ihm Schuld und Dämonen beigebracht hatte. Bastian beendete sowohl die Therapie, als auch die Mitgliedschaft in der Freikirche. Seine Familie hat noch heute Schwierigkeiten damit, akzeptiert die Entscheidung aber. Freunde und Gemeinde glauben bis heute, dass er Heilung braucht.
Über seinen Glauben sagt Bastian mittlerweile: "Mein Gott hat Homosexualität erschaffen und Vielfalt gewollt." Er tritt in Fernsehsendungen auf und gibt Interviews, um die Öffentlichkeit für die Probleme der "Homo-Heilung" zu sensibilisieren. Einmal hat sich ein anderer junger Mann bei ihm gemeldet. Bastian konnte ihm aus der Therapie heraushelfen. Andere haben weniger Glück.
Nach dem Film "boy erased" gab es in Berlin eine Podiums-Diskussion mit Interessierten. Der Saal blieb voll. Bei zwei Stunden Hollywood-Kino und einem erschreckten Staunen darf es in Bastians Augen aber nicht bleiben. Der Staat müsse handeln. Die Dämonen müssen verschwinden. Sagt Bastian.