Rund hundert Neonazis ziehen am Freitagabend durch den Dortmunder Stadtteil Marten. Am Rande der Demonstration werden Bengalos gezündet, aus der aggressiv auftretenden Demo heraus wird gerufen:
Die Polizei hält sich zurück, greift auch nach dem Zünden der Pyrotechnik nicht ein. Ein Sprecher der Polizei Dortmund sagt dennoch: "Wir waren mit ausreichend Kräften vor Ort."
Der Dortmunder Robert Rutkowski, der die Szenen gefilmt hat, meint: "Es war fast keine Polizei da. Ein paar Streifenwagen und Motorradpolizisten, ein paar Staatsschutzbeamte in zivil." Rutkowski begleitet und filmt regelmäßig Dortmunder Neonazi-Demos, berichtet darüber vor allem auf Twitter. Auch am Tag danach ist er noch schockiert davon, wie frei die Neonazis seiner Beobachtung nach gewähren konnten.
Ohne Konsequenzen sollen die Geschehnisse nicht bleiben. Wie ein Sprecher der Polizei Dortmund erklärt, seien Straftaten und Ordnungswidrigkeiten dokumentiert worden. Es seien bereits Strafverfahren eingeleitet worden. Auch ob die antisemitische Parole strafbar sei, werde derzeit geprüft.
Die Videos aus Dortmund sorgen seit Freitagabend für Aufregung und Kritik aus ganz Deutschland. Organisiert wurde die Demo von der rechtsextremen Kleinstpartei "Die Rechte". Und es ist nicht das erste Mal, dass die Dortmunder Neonazis mit antisemitischen Äußerungen und Gewalttaten provozieren und schockieren.
Für gewöhnlich demonstrieren Neonazis eher gegen Migranten und Muslime. Im Juli 2014 nahmen Dortmunder Neonazis jedoch an einer palästinensischen Demonstration gegen Israel teil. Auf der Demonstration wurden Parolen wie "Kindermörder Israel" gerufen. Mittendrin die Neonazis. Was sie mit den palästinensischen Demonstranten verbindet, ist die Ablehnung des jüdischen Staates. (Ruhrbarone)
Die angebliche Solidarität mit den Palästinensern hat dabei vor allem den Zweck, gegen Israel und gegen Juden zu hetzen.
Die rechtsextreme Kleinstpartei "Die Rechte", die auch für die Aufmärsche am Freitagabend verantwortlich ist, hat seit 2014 einen gewählten Vertreter im Dortmunder Stadtrat. Der stellte im November 2014 eine Anfrage an die Stadtverwaltung, die für eine Welle der Empörung sorgte.
Der Rechtsextreme wollte wissen, wie viele Juden in Dortmund leben und in welchen Stadtteilen sie wohnen. Zusätzlich stellte er noch weitere Anfragen, etwa zur Zahl der Aidskranken in der Stadt – die er gerne nach Nationalität und "sexueller Ausrichtung" aufgeschlüsselt haben wollte. ("FAZ")
Antworten auf diese Fragen bekam der rechtsextreme Ratsvertreter nicht. Dafür jedoch nicht nur bundesweite, sondern sogar internationale Aufmerksamkeit. Der kalkulierte Skandal funktionierte als gelungene PR-Kampagne für die Neonazis.
Im Dezember 2014 zeigten einige Neonazis in Dortmund ihren Antisemitismus völlig offen – ohne Einschreiten der Polizei. Nachdem Gegendemonstranten sie auf dem Weg zu einer Kundgebung blockiert hatten, skandierten die Rechtsextremen Parolen, in denen sie sich unter anderem über Anne Frank lustig machten, die 1945 im Konzentrationslager Bergen Belsen starb.
Auch über mehrere Todesopfer neonazistischer Gewalt machten sich die Neonazis lustig. So riefen sie, nur wenige Hundert Meter vom Tatort des NSU-Mordes an Mehmet Kubaşık entfernt, immer wieder "Mehmet hat's erwischt". Als die Polizei die Neonazis anschließend zum Bahnhof begleitete, skandierten einige von ihnen mehrfach: "Antisemiten kann man nicht verbieten!" (VICE)
Jedes Jahr am 9. November gedenkt die Jüdische Gemeinde Dortmund gemeinsam mit Stadtvertretern, Schulen und Dortmunder Bürgern im Stadtteil Dorstfeld der Opfer der "Reichspogromnacht" im Jahr 1938. Dort steht ein jüdisches Mahnmal. In den umliegenden Straßen des Stadtteils wohnt jedoch auch ein großer Teil der Dortmunder Neonazi-Szene. Die Rechtsextremen nennen den Stadtteil selbst ihren "Nazi-Kiez" und machen dies auch mit Graffitis deutlich.
So sicher wie jedes Jahr mit der jüdischen Gedenkfeier zu rechnen ist, sind auch rechtsextreme Störaktionen absehbar. Immer wieder haben Neonazis in den vergangenen Jahren mit antisemitischen Parolen, palästinensischen Flaggen und deutschen Reichsfahnen am Rande des Gedenkens provoziert. ("Westfälische Rundschau")
Im Juni 2018 wurde bekannt, dass Neonazis in Dortmund gleich drei mal innerhalb weniger Tage einen 26-jährigen Juden angegriffen haben.
Zunächst hatte ein Neonazi den Mann am Rande einer rechtsextremen Kundgebung antisemitisch beleidigt und zur Seite gestoßen. Wenige Tage darauf griffen gleich mehrere Neonazis den 26-jährigen in seiner Nachbarschaft erneut an.
Die 89-Jährige Ursula Haverbeck hat es sich offenbar zur Lebensaufgabe gemacht, möglichst oft und öffentlich den Holocaust zu leugnen. Dafür wurde die Rechtsextremistin bereits mehrfach verurteilt. Seit Mai 2018 sitzt Haverbeck im Gefängnis.
In ganz Deutschland kam es daraufhin zu Solidarisierungen der Neonazi-Szene mit der Holocaustleugnerin. Hunderte Neonazis folgtem im Mai einem Aufruf der Kleinstpartei "Die Rechte" und demonstrierten vor dem Bielefelder Gefängnis, in dem Haverbeck inhaftiert ist. ("Neue Westfälische")
Bereits vor ihrer Inhaftierung machte "Die Rechte" Ursula Haverbeck zur Spitzenkandidatin für die nächste Europawahl. (Belltower News)
Die Dortmunder Neonazis organisieren sich seit 2012 vor allem unter dem Schutzmantel der Partei "Die Rechte". Zuvor war die Neonazi-Kameradschaft "Nationaler Widerstand Dortmund" vom damaligen nordrhein-westfälischen Innenminister Ralf Jäger (SPD) verboten worden.
Die Neuorganisation innerhalb einer Partei bietet den Neonazis seitdem einen besonderen rechtlichen Schutz – sie profitieren vom sogenannten Parteienprivileg. Parteien können in Deutschland nur vom Bundesverfassungsgericht verboten werden. Die Hürden für ein Verbot sind hoch: Im vergangenen Jahr scheiterte bereits zum zweiten Mal ein Verbotsverfahren gegen die rechtsextreme NPD.
Trotzdem wollte NRW-Innenminister Ralf Jäger 2015 einen Versuch wagen, die Strukturen von "Die Rechte" verbieten zu lassen. Sein Argument: Es handele sich gar nicht wirklich um eine Partei, sondern um eine illegale Nachfolgeorganisation mehrerer verbotener Neonazi-Kameradschaften in Dortmund, Hamm und Aachen. ("Welt")
Ein Gutachten sollte klären, ob ein Verbot Aussicht auf Erfolg hätte. Das im November 2015 präsentierte Ergebnis war jedoch ernüchternd: Die Gutachter sahen keine Handhabe für ein schnelles Verbot von "Die Rechte".
Denn auch wenn "Die Rechte" eine Nachfolgeorganisation der verbotenen Kameradschaften sei, erfülle sie "Parteimerkmale". Sie war immerhin zu mehreren Wahlen angetreten. In Dortmund und Hamm konnte die Partei Sitze im Stadtrat und in Bezirksvertretungen erlangen. Deshalb führe kein Weg am Verfassungsgericht vorbei. ("Rheinische Post")
Trotzdem können Demonstrationen der Partei in begründeten Fällen verboten, oder mit Auflagen eingeschränkt werden – was auch immer wieder passiert.
In Dortmund wurde außerdem bereits vor mehreren Jahren die "Soko Rechts" der Polizei gegründet. Dort werden Ermittlungen und Strafverfahren gegen bekannte Rechtsextremisten gebündelt, um einen höheren Druck auf die Szene ausüben zu können. ("WAZ")
Trotzdem bleibt Dortmund auch weiterhin eine der wichtigsten Hochburgen der Neonazi-Szene in Westdeutschland. Und auch mit Rechtsextremisten in den ostdeutschen Bundesländern ist die Szene gut vernetzt: An mehreren rechtsextremen Demonstrationen der vergangenen Wochen in Chemnitz und Köthen nahmen auch Aktivisten und Funktionäre von "Die Rechte" aus Dortmund teil.