"Niemand muss auf der Straße schlafen." Das ist einer dieser Sätze, die oft fallen, wenn es um das Leben der Ärmsten in Deutschland geht. Was der Satz meint, ist: “Wir können ja nichts dafür.” Oder: “Die sind doch selber schuld.” Doch die Realität ist komplizierter.
Der Wohnungsmarkt verschärft sich vor allem in Großstädten immer weiter. Bezahlbarer Wohnraum wird zu einer knappen Ressource. In vielen Städten mangelt es außerdem an Notunterkünften für Obdachlose. Und selbst da, wo es genug gibt, sind solche Unterkünfte nicht für jeden eine Option: Wer einen Hund hat, der hat oft ein Problem. Und wer keinen deutschen Pass hat, oder einfach nur in einer anderen Stadt gemeldet ist, ebenso.
Doch gleichgültig, wie richtig oder falsch der Satz vom nicht auf der Straße schlafen müssen ist, zur sozialen Wirklichkeit deutscher Städte gehört Obdachlosigkeit dazu: Tausende Menschen leben unter schwierigsten Bedingungen draußen. Laut den Schätzungen der "Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe" schlafen etwa 52.000 Menschen in Deutschland ohne jede Unterkunft auf der Straße.
Wir haben drei obdachlose Straßenzeitungsverkäufer besucht, und sie nicht nach der Verantwortung für ihre Lage gefragt, sondern danach, wie sie leben.
Am Rande der Bochumer Innenstadt ist das monotone Rauschen der A40 zu hören. "Hätte ich nicht das Haus gefunden, ich hätte ich mich auch hier unter die Autobahnbrücke legen können. Hat ein Kumpel mal gemacht. Ist völlig irre geworden von dem Lärm." Das erzählt Daniel, 32 Jahre alt. Wir sind auf dem Weg zu dem, was er zurzeit sein Zuhause nennt. Die Nächte verbringt er in einem leerstehenden Haus am Stadtrand. Während wir an freistehenden Einfamilienhäusern vorbeigehen, erinnert er sich an seine erste Nacht.
Das Haus, in dem Daniel schläft, ist mit Graffiti bemalt, die Fenster sind fast vollständig vernagelt. Als wir ankommen, gehen wir erst einmal unauffällig vorbei. In der angrenzenden Firma ist gerade Mittagspause. "Man weiß nie, wie misstrauisch die Leute sind." Nach einigen Zigaretten ist die Mittagspause nebenan vorbei. Wir klettern durch ein Fenster im Erdgeschoss. Modriger Geruch, der Boden voller Scherben, die Stromleitungen sind längst aus den Wänden gerissen. "Ich war nicht der Erste hier. Schrottsammler haben das Haus schon leer gemacht. Mit Kupferleitungen kannst du richtig Kohle machen."
Nicht nur Metalldiebe waren vor Daniel hier drin. An einer Wand in dem Raum, der mal eine Küche war, hat jemand ein Hakenkreuz und “SS”-Runen auf die halb abgerissene Tapete gesprüht.
Mit einer Taschenlampe leuchtet Daniel den Weg durch das dunkle Treppenhaus und den Flur im ersten Stock. Die Wände sind blau angemalt. Vermutlich war hier mal ein Kinderzimmer. Heute ist der Raum Daniels Nachtlager. Auf dem Boden liegen eine Isomatte, ein Schlafsack, Teelichter, eine große Sporttasche.
Als Michael in einer Dortmunder Anlaufstelle für Obdachlose aufschlägt, hat er nur noch eine Tasche mit den verkohlten Überresten seines Besitzes bei sich. "Das ist alles, was ich noch habe", erklärt er. Auf einem Bahndamm nahe der Dortmunder Innenstadt hatte er sich einen kleinen Verschlag gezimmert.
Von seiner Bleibe ist jetzt kaum noch etwas übrig. Daniel steht zwischen verbrannten Brettern und Plastikteilen. "Ich hatte es eigentlich ganz nett hier. Und es hat sich hier nie jemand an mir gestört. Manchmal kam die Polizei vorbei. Aber die wollte immer nur wissen, ob alles in Ordnung ist." Er durchwühlt die Asche nach seinen letzten Habseligkeiten.
Die letzten Nächte habe er sich ein paar Bretter an eine Wand gelehnt und darunter geschlafen, sagt er. Seine Hütte wieder aufbauen will Daniel aber nicht. "Hier werde ich nicht weitermachen. Ich such mir was Neues."
Etwas außerhalb der Dortmunder Nordstadt hat Jan sein Zelt aufgeschlagen. Der Weg dorthin führt durch einen jungen Laubwald, an einer Hauptstraße vorbei. Zwischen den Bäumen erzählt Jan, wie er hierhergekommen ist: "Bis vor Kurzem war ich noch mit einem Kumpel in einem leerstehenden Haus. Da haben uns dann aber nachts immer wieder Leute besucht."
Sein Kumpel sei jetzt in einer Übernachtungseinrichtung. "Das ist aber nix für mich, darum bin ich hier hin." In einer Senke zwischen etwas höheren Bäumen hat Jan sein grünes Igluzelt aufgeschlagen. Drinnen liegt das Nötigste, um sich vor dem kalten Winter zu schützen: Eine Isomatte, ein Schlafsack, ein Rucksack mit Kleidung. "Ich habe das Zelt extra so aufgebaut, dass man es von der Straße aus nicht sehen kann. Du willst halt eine ruhige Ecke haben, aber auch nicht wer weiß wie weit draußen im Niemandsland schlafen."
Der Platz, den Jan sich ausgesucht hat, scheint beliebt zu sein. Nur einen Steinwurf entfernt stehen die Überreste von weiteren Zelten und einer Bretterbude. "Im Moment scheine ich aber der Einzige hier zu sein", sagt Jan. Und dann sagt er einen Satz, der die Situation vieler Obdachloser deutlich besser auf den Punkt bringt, als der Eingangssatz dieses Textes:
*Wir haben die Namen der Personen in diesem Artikel geändert, um ihre Privatsphäre zu schützen. Der Text ist zuerst im Straßenmagazin bodo erschienen.