WM ist, wenn du alle vier Jahre merkst, dass du Nachbarn
hast. Dann hörst du sie plötzlich jubeln. Und du stellst fest, dass da Leben ist – hinter dem Stuck, der Raufasertapete, dem Wandtattoo.
Doch wohnungsübergreifender Jubel wird dieses Jahr nicht aufkommen. Bei
mir zumindest.
Denn: Wer Fußball liebt, hat ein Problem. Ich habe ein Problem. Die Putin-Administration wird dafür sorgen, dass es eine perfekte
Show wird. Und wir alle werden Teil dieser Inszenierung. Selbst die größten
Kritiker.
Einen kleinen Vorgeschmack auf das, was da kommen mag, wie beispielsweise mit kritischen Journalisten in Russland umgegangen wird, lieferte der Vorgang um den ARD-Journalisten Hajo Seppelt. Erst verweigerten russische Behörden ihm das Visum zur Einreise, schließlich "darf" er doch. Der Fall zeigt, wie repressive Arbeitsteilung in autoritären Staaten funktioniert: Der Staat zählt seine Kritiker an, die Justiz lädt sie vor und die Staatspresse gibt sie "zum Abschuss" frei.
Regierungsvertreter von Großbritannien und Island, das zum ersten Mal überhaupt bei einer WM dabei ist, haben angekündigt, der WM fern zu bleiben.
Die australische Regierung diskutiert dies zumindest.
In Deutschland gibt es von Seiten der Regierung noch keine offizielle Stellungnahme.
Der ehemalige Schach-Weltmeister Garri Kasparow schrieb in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
"Verwehren wir Putin die Bestätigung und den Ruhm, die er so sehr begehrt, indem Regierungsvertreter der Weltmeisterschaft fernbleiben"
Garri Kasparow
Fußball verbindet: Fifa-Präsident Gianni Infantino und Wladimir Putin. Bild: Getty Images Europe
Aber reicht das? Ein bisschen Konsequenz dort, wo sie niemandem wehtut? Der Westen zieht reihenweise seine geschäftsmäßigen Diplomaten ab, um im Sommer dann Rasendiplomatie spielen zu lassen? Dabei ist es ein ungeschriebenes Gesetz, dass autoritäre Staaten Großveranstaltungen
zur Inszenierung nutzen – und manchmal sogar für Krieg. Während der Sommerspiele in Peking 2008 führte Putins Russland Krieg gegen Georgien. Nach den Olympischen Winterspielen in Sotschi ließ Putin die Krim besetzen. Warum sollte das nicht wieder
passieren?
Hamburgs Drag-Queen Olivia Jones und Freunde haben zum G20-Gipfel in ihren Kiez-Lokalitäten in St.Pauli ein Hausverbot gegen „Populisten und Despoten“ verhängt.Bild: Getty Images Europe
Dieser Fußballsommer stellt mich vor ein Dilemma: Wie soll ich mich, der
eigentlich "nur" Fußball schauen möchte, dazu verhalten. Wie ein Spiel genießen,
wenn ich doch weiß, dass Putin und Co. diese Spiele zu ihren Spielen machen werden.
"Boykotte bringen nichts"
Woher kommt eigentlich diese Gewissheit? Es gibt keine Beispiele. Im Gegensatz zu Olympischen Spielen (1980 und 1984) ist noch nie eine Mannschaft einem Turnier aus politischen Gründen fern geblieben. Allerdings wurden bei der WM 1950 Deutschland und Japan ausgeschlossen. Und es gab natürlich Weltmeisterschaften in Diktaturen. Mussolini missbrauchte die WM 1934 für seine faschistische Propaganda. Und während der WM 1978 in Argentinien herrschte eine brutale Militärdiktatur. Kaum jemand würde heute bestreiten, dass es nicht besser gewesen wäre, wäre man diesen Inszenierungen ferngeblieben.
Mit Anpfiff des ersten Spiels am 14. Juni werde ich nicht alles vergessen haben. Ich
werde verdrängen. Und mir einreden, dass das eine Politik ist und das andere Fußball. Und werde, so gut es
geht, die politischen Vorzeichen ausblenden und mich ganz apolitisch in die Schönheit
des Spiels verbeißen. Verbeißen müssen.
Kopf und Herz werden einen dreckigen Zweikampf führen
Mein Verstand weiß um die völkerrechtswidrige Annexion der Krim. Dass Putin diese Landnahme als Selbstbestimmungsrecht des Volkes verkauft. Und sich der Westen mittlerweile daran gewöhnt, dass in der Ostukraine immer noch Krieg herrscht.
Aber mein Fußballherz sieht nur den tanzenden Iniesta.
Bild: giphy
Mein Verstand weiß, dass Putin im syrischen Diktator Assad einen Mann unterstützt, der Krieg gegen die eigene Bevölkerung führt – und sich Russland gleichzeitig weigert, syrische Flüchtlinge aufnehmen.
Aber mein schnödes Fußballherz schlägt einen ganzen Purzelwald, wenn sich Thomas Delaney an seine Gegenspieler klebt wie besoffene Austern an glitschige Felsen.
Mein Verstand weiß, dass Putin und seine Partei "Einiges Russland" das Land in eine "simulierte Demokratie" (Jens Binner) geführt haben. Dass Putin ein Meister darin ist, die Opposition auszuschalten: Er lässt nicht wählen, sondern sich in Wahlen bestätigen.
Aber mein Herz und der Helmut Rahn in mir wollen in der Kneipe mit bärtigen Isländern saufen. Wollen mit einem dämlichen Grinsen im Gesicht mit den ersten Sonnenstrahlen durch den Morgen spazieren. Irgendwo dort, wo die Ratio noch schlaftrunken am Tresen klebt.
Mein Verstand wird nie verstehen, warum gerade Sozialdemokraten und Linke so viel
Verständnis für diesen Retro-Utopisten Putin aufbringen, für ein System, das
alles Liberale verachtet, Homosexuelle bekämpft und den Nationalismus preist.
Und dieses dämliche Herz schreit und will sehen, wie Jogi Löw im Finale Nils Petersen einwechselt und zu ihm ins Ohr flüstert: "Zeig der Welt, dass du besser bist als Sandro Wagner!"
Mein Verstand weiß, dass Putin von neurechten Bewegungen in
ganz Europa gefeiert wird. Dass seine neuen Freunde in der AfD, im Front National in
Frankreich, der Lega Nord in Italien oder der FPÖ in Österreich zu Hause sind.
Es ist Strategie des Kreml, ultrarechte Strömungen in Westeuropa zu
unterstützen, um die EU zu destabilisieren. Und es ist kein Zufall, dass sich
Putin plötzlich so prächtig mit dem iranischen Präsidenten Hassan Rouhani und dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan versteht.
Aber, ja, ja, das Fußballherz...
Gute Freunde kann niemand trennen: Hassan Ruhani, Recep Tayyip Erdogan und Wladimir Putin.Bild: Pool EPA/AP
Ja, mein Verstand weiß das alles. Und wird dennoch nicht den Hauch einer Chance haben.
Was bleibt, ist mich zu ärgern.
Vor allem über mich selbst. Über meine Inkonsequenz und intellektuelle Bequemlichkeit.
Und ich werde mir
einreden, dass ich das tue, weil mir Russland gerade nicht egal ist.
Und hoffe auf viele kritische Stimmen vor Ort, die Putin zumindest ein bisschen die Party versauen.
Paraguay führt Trikots für sehbehinderte Menschen ein
Rot, weiß, blau: Das sind die Nationalfarben von Paraguay, die auch das Trikot der Fußball-Nationalmannschaft schmücken. Sich in das Trikot der Mannschaft zu werfen, gehört für viele Fußball-Fans dazu – egal, ob sie das Spiel live im Stadion oder im heimischen Wohnzimmer vor dem Fernseher oder am Radio verfolgen.