Özil geht, der Hambacher Forst bleibt, Chemnitz schreckt auf – 2018 war turbulent. Auch für uns: watson.de startete im März. Auf einige Geschichten sind wir seitdem besonders stolz. Wie auf diese hier:
Ich war eine Woche in Duisburg unterwegs, wo fast 20.000 Rumänen und Bulgaren leben, viele von ihnen sind Roma. Ich habe mit denen gesprochen, die es geschafft haben, und denen, die noch versuchen, anzukommen.
Entstanden ist eine Momentaufnahme, die natürlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit hat. Die aber vielleicht ein bisschen zeigt, wie Roma in Deutschland leben. Und warum die Debatte um Integration oft so schwierig ist.
Die Schaufenster eines kleinen Geschäfts sind mit Werbung von Telefonanbietern zugeklebt, rote und blaue Balken. Ein flüchtiger Blick durch das beschlagene Schaufensterglas auf die Rücken zweier Männer.
Der eine sitzt wie ein Buddha auf seinem Schreibtischstuhl hinter dem Tresen. Er tippt auf einer vergilbten Computertastatur herum. Der andere trägt eine Mütze und sitzt vor einem Haufen kleiner Paletten, Handyakkus und Displayscheiben. Mit einem Fön trocknet er ein frisch auf ein Handy aufgetragenes Display.
Ein junger Typ steht vor dem Laden, er trägt einen tarnfarbenen Jogginganzug, seine Haare sind zu einem Zöpfchen gebunden, seine Hände stecken in seinen Hosentaschen. Es ist Februar 2018, Montagvormittag. Es ist kalt hier. Wenn man keine warme Jacke trägt.
Der Buddha kommt aus dem Laden. "Was willst du?"
Der Zöpfchenkopf: "Ich habe noch Musikboxen."
Der Buddha: "Kaufe ich nicht. Versuch woanders." Er schweigt. Und dreht sich zu mir: "Und was willst du
hier?"
Ich interessiere mich für die Roma in der Stadt.
Zöpfchenkopf: "Wir hier sind Roma. Zigeuner."
Zigeuner? Ich dachte, das ist ein Schimpfwort.
Buddha: "Wir können das sagen. Aber wenn du als Gadjo zu uns Zigeuner sagst, kriegst du auf die Fresse."
Gadjo – so nennen Roma alle anderen. Der Handyreparateur mit der Mütze ist dazugekommen, er sagt, er heiße Cato. Er hat sich einen Mantel übergezogen und pafft Dampf aus einer E-Zigarette. Seine Augen sind so blau, wie sie sonst nur in deutschen Schlagern besungen werden. Er schaut kurz, dann senkt er den Kopf auf die Seite: "Warum interessieren wir dich denn?", fragt er misstrauisch.
Alle reden von den Problemen hier. Von Müll oder davon, dass die Kinder nicht zur Schule gehen.
Cato sagt: "Na gut. Dann reden wir. Morgen nach der Arbeit."
Früher wurde in Duisburg die Kohle des Ruhrpotts auf Frachtschiffe verladen und in die Welt versendet. Heute erleben die Duisburger den Niedergang ihrer Stadt. Zwei Milliarden Euro Schulden hat die Stadt, sie muss sparen. Das bekommen Bezirke wie Duisburg-Marxloh, ohnehin schon zu No-Go-Areas stigmatisiert, mit am meisten zu spüren. Duisburg, eine Stadt wie ihr Wahrzeichen, das Abluft-Rohr des abgerissenen Turms der Stadtwerke.
Menschen zogen weg. Seit ein paar Jahren gibt es neue Duisburger in der Stadt. Rund 17.000 Bulgaren und Rumänen leben offiziell hier, wie viele von ihnen sich als Roma bezeichnen, ist unklar. Denn danach fragen die Behörden nicht.
Die Roma fallen auf in der Stadt: Männer tigern morgens in Hochfeld auf der Suche nach Arbeit herum, einige Frauen gehen in den Puffs rund um den ausgedienten Stadtwerketurm anschaffen.
Eines der größten Probleme aus Sicht der Stadt: die vermüllten Häuser. Problemimmobilien, wie es bei der Stadt heißt. Die Behörden bemängeln in Häusern in Hochfeld und Marxloh Verstöße gegen den Brandschutz, mangelhafte Elektronik, Feuchtigkeit, Schimmelbildung sowie unhaltbare hygienische Zustände.
Seit 2014 gibt es daher eine Task-Force, regelmäßig werden die Objekte geräumt. So hat die Stadt die Zahl der "Problemimmobilien" innerhalb von zwei Jahren von 120 auf 53 reduziert.
Doch die "sozialen Brennpunkte" würden dadurch nicht aufgelöst, wie die Stadt uns gegenüber zugibt.
Wie überfordert die Stadt ist und wie vergiftet die politische Diskussion zeigen auch Aussagen des SPD-Bürgermeisters Sören Link. Der sagte 2015: "Ich hätte gerne das Doppelte an Syrern, wenn ich dafür ein paar Osteuropäer abgeben könnte." (DerWesten I) Im Herbst 2017 bestätigte er seine Haltung. "Die Osteuropäer kommen ja nicht alle nach Duisburg, um hier zu arbeiten." (DerWesten II)
Am nächsten Abend beeilt sich Cato, der Handyreparateur aus der Duisburger Stadtmitte. Er läuft nach Hochfeld, zum City Wohnpark, einem halb hohen Plattenbaukomplex. Auch der war schon in den Medien, verwahrloste Wohnungen, viele Polizeieinsätze. Cato lebt hier mit seiner Familie in einer kleinen Dreizimmerwohnung.
In Catos Umhängetasche warten noch ein paar Handys darauf, zu Hause ausgepackt und repariert zu werden. Das dauert bestimmt bis ein Uhr nachts. An der Ampel vor dem City-Wohnpark dreht er sich zur Seite: "Ach ja, und Mitternacht werde ich 38. Ich habe gleich Geburtstag."
Im Aufgang zu seiner Eingangstür spielen ein paar Jugendliche mit einem Kampfhund. "Ich will hier wegziehen, vor allem der Ärger nachts nervt. Nichts für meine Kinder", sagt Cato. Zu Hause angekommen begrüßt ihn seine Tochter mit einem pink verpackten Geschenk. Leider noch ein wenig zu früh. Gemütlich ist es hier, goldfarbene Tapete funkelt von der Wand.
Er zieht wieder an der E-Zigarette, seine Frau und zwei seiner fünf Kinder sitzen auf einer Couch an der Seite, im Hintergrund läuft "RTL aktuell".
Wieder stellt zuerst er die Fragen: "Was interessiert dich am meisten an uns?"
Mich interessiert das Dilemma, in dem Roma sich befinden. Sie werden unterdrückt, schotten sich ab, manche drehen krumme Dinger, und dann werden sie wieder unterdrückt.
Cato holt aus: "Das geht in der Schule los. Ein Rom muss in der Schule fünf Mal besser sein, um überhaupt aufzufallen. Die bemerken dich da nicht."
Wieso also die Kinder zur Schule schicken?
Cato kommt aus dem Ghetto Vojni Put in der serbischen Hauptstadt Belgrad. Zu Kriegszeiten verließ er den Balkan, beantragte in Deutschland Asyl, wurde geduldet, später abgeschoben.
Dann tat er, was viele Roma in solchen Lagen tun:
Seit zehn Jahren lebt Cato nun schon in Duisburg. Er ist zum zweiten Mal verheiratet, er war Gastronom, Obsthändler, Automechaniker, Verkäufer, jetzt repariert er Handys.
Für Roma in anderen Ländern sei es schwieriger, sagt er. In Bulgarien und Rumänien hätten sie noch weniger Perspektive als in Serbien. Dort, wo sie auf dem Land leben, in Verschlägen, ohne Haustür, ohne Strom, ohne Wasser.
Einige Familien aus diesen Slums würden ihren Kindern daher beibringen, wie man "draußen Geld machen kann". Auf der Straße, meint Cato. Stehlen, Anschaffen oder aggressiv Betteln. "Egal wie, es gibt so viele Möglichkeiten." Und ein paar Familien, denen sei alles egal. "Die sind noch richtig wild. Da gehen die Frauen auf den Strich und die Männer zocken und saufen."
Cato lehnt sich zurück in seinem Sessel und erzählt von den "Wilden". Roma in Duisburg, die ihre Hühner in Treppenhäusern züchteten. Oder die Romafamilie, die im Rotlichtviertel ein Spanferkel auf der Straße gegrillt haben soll. Als das Ordnungsamt kam, hätte sich der Vater das Ferkel über die Schulter geworfen und wäre weggerannt.
Darüber lacht Cato. Aber eigentlich findet er das überhaupt nicht witzig. Solche Aktionen, der Müll in den Hinterhöfen, da kann er schon verstehen, wenn sich die Deutschen gestört fühlen.
Einerseits, aber andererseits:
Zigeuner? Seine Frau schaut von ihrem Smartphone auf, sie findet das nicht gut, dass er das so sagt, es geht ihr nicht um das Wort "Zigeuner" an sich, sondern darum, wie die anderen das sehen, "wie die dann mit den Augen rollen" Cato aber sagt: "Zigeuner können auch vernünftige Leute sein. Also bin ich stolz, ein Zigeuner zu sein."
Warum können sich einige Roma integrieren und andere nicht? Cato sagt: "Es gibt solche und solche. Einige werden lernen und andere werden vielleicht für immer wild bleiben."
Früher lebten hier die Stahlarbeiter. Heute hängen die Rollläden auf Halbmast, Teppiche hängen zum Lüften aus den Fenstern, hier steht ein schrotter Kinderwagen in der Ecke, dort liegen ein paar Latten herum. Zwei Polizisten bringen einen Jugendlichen nach Hause, eine Romni an der Straßenecke sagt, er sei nicht in der Schule gewesen und die Eltern bekämen jetzt "ein Ticket".
In einem dieser Häuser leben Antonella Cirpaci und ihr Mann, beide Ende Dreißig, Roma aus Lugos in Rumänien, die wie viele andere in den vergangenen drei Jahren nach Marxloh gekommen sind, und die immer noch versuchen, anzukommen.
Vielleicht hat es sich herumgesprochen, dass der "Gadjo" gleich vorbeikommt, denn die Tür im Haus der Cirpacis steht offen, ebenso die Wohnungstür, ein halbes Dutzend Männer sitzt in der Wohnküche. Im Fernsehen läuft eine rumänische Talk-Show, die eine Wand besteht aus Fototapete, an der anderen Wand hängt eine Pferdebüste in Bronze, daneben ein leicht eingerissenes Poster von einem Model.
Wer das ist? "Keine Ahnung, war schon da", sagen sie. Alle lachen. Und alle rauchen. Nach und nach verlassen die Männer die Wohnung, bis nur Antonella Cirpaci und ihr Mann am Küchentisch sitzen. Auf dem linken Handrücken des Mannes von Antonella ist schwer leserlich das Wort Claudio tätowiert. Sein Vorname.
Die Cirpacis erzählen:
Umgerechnet 200 Euro Lohn monatlich bekam Claudio zuletzt in Rumänien – für zwölf Stunden Arbeit täglich. Sie lebten im Haus seiner Eltern, dann zog sein Bruder mit ein, es wurde immer enger, also: "Raus!" Raus, das ist eines der wenigen Wörter, die er auf Deutsch sagen kann. Er seufzt.
Ihr ältestes Kind, ein Sohn, sei damals schon nach Duisburg losgezogen. Jetzt sind sie eben alle hier – und sie wollen auf jeden Fall bleiben, sagt er. Arbeiten und Deutsch lernen. Mehr nicht.
Und, wie läuft's? Den Deutschkurs hat er noch auf der Liste, sagt Claudio. Mehr sagt er nicht dazu. Arbeit aber hat er gerade nicht, zuletzt half er bei einem Umzug in Krefeld. Der Patron, ein Türke, habe ihm nur 30 Euro geben wollen.
So wie Claudio geht es in Duisburg vielen Roma. Männer, die früher einen Job hatten und die jetzt nicht wissen, wohin. Die keine Ausbildung haben und die sich mit körperlich anstrengenden Jobs über Wasser hielten. Die aber auch älter werden und jetzt resigniert am Küchentisch sitzen und feststellen: Für mich gibt es hier keine Arbeit.
Während des Gesprächs kommen und gehen Männer im Blaumann ein und aus, ein paar Kinder springen umher. Es fühlt sich an wie ein Sonntag, obwohl es ein Mittwoch ist.
Sind also die anderen Schuld? "Die Deutschen sind höflich und besser zu uns als die Rumänen in Rumänien", sagen Claudio und Antonella Cirpaci. Nur "die Türken" in Marxloh würden sie hier als "Zigeuner" beschimpfen.
So sehen das die beiden: Da die bulgarischen Roma oft Türkisch sprächen, fänden diese eher einen Minijob und eine Wohnung in Marxloh als sie, die überall hinten anstehen.
Und warum ist das Ankommen in Deutschland so schwierig?
Die Bürokratie, sagt Antonella. Was das Gesundheitsamt von ihr wolle, oder wie sie ihre Töchter in der Schule anmelden soll. "Das ist alles so kompliziert", sagt sie. Außerdem: In Rumänien wurden die Kinder in der Schule wenigstens eingeschlossen und bewacht. Das sei besser, das sei sicher. Aber hier wussten sie anfangs nicht, was mit den Kindern dort geschieht.
Ihre Eltern seien wie sie nicht zur Schule gegangen, und da dachten viele Roma zuerst, das sei in Ordnung so, wenn ihre Kinder zuhause bleiben, sagt Antonella.
Und die Sache mit dem Müll? "Das ist doch besser geworden. Am Anfang wussten die Leute nicht, wie man Sperrmüll beantragt", sagt Antonella. Und weil in den vergangenen Jahren so viele Roma kamen, sie in Marxloh immer wieder die Wohnungen tauschten, die Stadt ihnen drohte, sie zu räumen, und manche weiterzogen, hätten sie ihre Sachen eben stehen gelassen.
Claudio und Antonella sind froh, in Deutschland zu sein, auch wenn sie wissen, dass sie hier kaum Chancen haben.
Und Duisburg? Sie zögern, die Cirpacis, und trauen sich nicht so richtig zu antworten. Dann fragt Claudio: "Sind die ganzen Probleme in Duisburg wegen uns?"