CSU-Politiker Alexander Dobrindt kritisiert nach Ellwangen, eine "Anti-Abschiebe-Industrie" sabotiere den Rechtsstaat. Doch um den Rechtsstaat geht es gar nicht – vor allem die Union führt mit dem Begriff in die Irre.
Dass Flüchtlinge im baden-württembergischen Ellwangen die Polizei zunächst daran hinderten, einen Mann abzuschieben, hat viel Aufregung verursacht. Der Chef der CSU-Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, hat den Vorfall wieder einmal zum Anlass für eine grelle These genommen. In einem Interview sagte Dobrindt, es gebe in Deutschland eine "aggressive Anti-Abschiebe-Industrie", die "bewusst die Bemühungen des Rechtsstaats sabotiert".
Daraufhin warf nun aber der Präsident des Deutschen Anwaltsvereins seinerseits Dobrindt vor, den Rechtsstaat zu schwächen. Sein Argument: Jeder Mensch habe das Recht, Rechtsmittel gegen Asylbescheide einzulegen und sich einen Anwalt zu nehmen. Der Streit weist weit über Dobrindts Provokation hinaus.
Denn zum ersten Mal in den vergangenen Monaten muss sich jetzt ein Spitzenpolitiker für etwas rechtfertigen, was offenkundig seit einer Weile zur Strategie der Union gehört: die Umdeutung des "Rechtsstaats".
Es ist auffällig, dass insbesondere die CSU den Begriff "Rechtsstaat" nutzt, um eigene politische Forderungen freundlicher, konsensfähiger, legitimer klingen zu lassen. Sie kapert den Begriff, indem sie ihn umdeutet. Sie setzt ihn eins zu eins mit dem starken Staat, mit Law-and-Order-Politik, mit Gehorsam des Bürgers gegenüber dem Staat.
Die Diskussion über den Rechtsstaat ist sehr alt, es gibt verschiedene Herleitungen und Definitionen; im Kern aber geht es darum, dass Staatsorgane nur in einem Rechtsstaat selbst ans Recht gebunden sind.
Die Diskussion über den Rechtsstaat ist sehr alt, es gibt verschiedene Herleitungen und Definitionen; im Kern aber geht es darum, dass Staatsorgane nur in einem Rechtsstaat selbst ans Recht gebunden sind.
Regierung, Parlament, Polizei oder Bürgermeister müssen sich an Gesetze halten. Sie dürfen nur auf der Grundlage von Recht handeln. Sie müssen die Grundrechte der Bürger schützen. Sie müssen verhältnismäßig handeln: also zum Beispiel nicht wegen Bagatellen lange Strafen verhängen. Die drei Gewalten müssen geteilt und die Justiz muss unabhängig sein. Wenn ein Bürger den Eindruck hat, dass der Staat seine Rechte verletzt, kann er vor Gerichten dagegen vorgehen.
Mit anderen Worten: Ein Rechtsstaat verhindert politische Willkür. In einem Rechtsstaat ist der Staat selbst gebunden, beschränkt, eingehegt.
Wenn ein Flüchtling oder ein Helfer die Polizei an einer Abschiebung hindert, dann verstößt er vielleicht gegen ein Gesetz. Vielleicht hindert er auch den Staat an der Durchsetzung des Rechts und stellt damit die Staatsgewalt infrage. Eine Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit an sich ist er nicht.
Wenn aber ein Polizist unverhältnismäßige Gewalt anwendet, einen Flüchtling ohne Grundlage festnimmt, oder den Helfer länger als erlaubt in Gewahrsam nimmt, dann verstößt er gegen das Rechtsstaatsprinzip.
Nicht, weil das eine notwendigerweise schlimmer wäre als das andere, sondern weil einmal der Staat handelt und einmal nicht.
Dass der Rechtsstaat entscheidender Bestandteil einer liberalen Demokratie ist, macht ihn als Verkaufsargument für andere Politiken so attraktiv. Ohne Rechtsstaatlichkeit verkommt eine Demokratie zur reinen Mehrheitsherrschaft. Gegen den Rechtsstaat sind nur Demokratiegegner und korrupte Gangster.
Das macht sich die Regierung, vor allem die CSU, zunutze – indem sie ihren Forderungen nach innerer Sicherheit und einer resoluten Durchsetzung des Gewaltmonopols mit dem Label "Rechtsstaat" versieht.
Erstens, eben Alexander Dobrindt, der Flüchtlingsorganisationen und Anwälten vorwarf, "den Rechtsstaat" zu sabotieren.Tatsächlich, darauf hat der Deutsche Anwaltsverein zu Recht hingewiesen, gehört es eben zum Kern eines Rechtsstaats, dass sich Menschen gegen Entscheide wehren können. Bis alle Rechtsmittel ausgeschöpft sind – erst dann wird ein Urteil ja: rechtskräftig. Es ist auch legitim, als Anwalt damit Geld zu verdienen.
Was Dobrindt eigentlich kritisiert: Dass Flüchtlingshelfer die Durchsetzung von Zwangsmaßnahmen behindern.
Zweitens, Markus Söder, heute bayerischer Ministerpräsident. Der Staat zahlt abgelehnten Asylbewerbern manchmal Geld, damit sie freiwillig gehen und er nicht abschieben muss. Das spart Zeit, Aufwand, manchmal auch Kosten, und es vermeidet die Konfrontation. Söder sagte im vergangenen Dezember: "Wir können doch nicht denen, die kein Bleiberecht haben, auch noch Geld geben, damit sie gehen. Als erstes muss der Rechtsstaat wirken". In diesem Fall meint auch er: Der Staat müsse das Recht mit Zwang umsetzen. Mit dem Rechtsstaat hat das nichts zu tun – allenfalls mit dem Gewaltmonopol. Eigentlich aber mit demonstrativer Staatsgewalt.
Drittens, der "Pakt für den Rechtsstaat", wie er im Koalitionsvertrag festgeschrieben ist. Alle drei Koalitionsparteien, CDU, CSU und SPD, haben sich dazu bekannt. Auf fast sechs Seiten sind verschiedene Maßnahmen festgeschrieben, von denen wenige konkret den Rechtsstaat betreffen: die Musterfeststellungsklage, eine Art Sammelklage. Die ersten beiden Punkte aber heißen: 2.000 neue Richterstellen. 15.000 Stellen für die Polizei. Diese Beispiele nennt die SPD-Abgeordnete Eva Högl in einem kurzen Erklärvideo zum "Pakt".
Auch hier gilt: Um den Rechtsstaat im eigentlichen Sinne geht es nicht. Sondern um einen Ausbau der Sicherheitsbehörden, um Null-Toleranz-Politik, um mehr Befugnisse, um einen starken Staat mit starker Zwangsmacht, der für Sicherheit und Ordnung sorgt.
Das dürfte auch den Koalitionsparteien klar sein, denn sie formulieren es selbst. Eva Högl sagt in dem Video, der "Pakt" sei "ein guter Beitrag für Sicherheit und Ordnung".
Die Unionsfraktion im Bundestag lud kürzlich zu einer Veranstaltung mit dem Titel: "Pakt für den Rechtsstaat – zur Stärkung von Justiz und Polizei". Der Hashtag dazu: #starkerStaat18.
Dieser Text ist zuerst auf t-online.de erschienen.