Özil geht, der Hambacher Forst bleibt, Chemnitz schreckt auf – 2018 war turbulent. Auch für uns: watson.de startete im März. Auf einige Geschichten sind wir seitdem besonders stolz. Wie auf diese hier:
Der ehemalige Soldat krallt seine Finger tiefer in das Polster seiner Sitzbank. Von der Besucher-Tribüne des Bundestags aus starrt er auf einen Mann mit roter Krawatte, der gerade an das Podium tritt.
Es ist Mitte April 2018. Er ist am Vortag acht Stunden mit dem Auto von Saarbrücken nach Berlin gefahren. Jetzt hockt der Saarländer da, zuppelt sein dunkelblaues Sakko zurecht und wartet darauf, dass sein Name über die Lautsprecher schallert.
Die Verteidigungsministerin soll hören, wie die Bundeswehr ihn zum Salafisten gemacht hat. Die Abgeordneten des Bundestags sollen es hören und die Öffentlichkeit. Dies soll sein Moment der Gerechtigkeit sein.
Doch erst einmal kommt ihm der Mann unten am Podium dazwischen, der Wehrbeauftragte Hans-Peter Bartels (SPD) ist zuständig für die Dokumentation von Missständen in der Bundeswehr. Heute stellt er seinen Jahresbericht für 2017 vor. Er spricht von mangelhafter Ausrüstung für die Truppe, von Problemen mit Rechtsextremen, von der Jagd nach Islamisten in den Reihen der Soldaten.
Weiter oben schnaubt er auf.
Bartels "Jagd“ ist in seinen Augen dafür verantwortlich, dass er dreimal in die Klinik musste und seit Jahren zur psychischen Behandlung geht. Sie ist für ihn auch der Grund dafür, dass er die Bundeswehr verlassen musste, obwohl er nie woanders hinwollte. "Nach allem, was passiert ist“, sagt er, "ist meine Loyalität gegenüber dem deutschen Staat erschüttert“.
Der ehemalige
Soldat besucht im April den Bundestag, um ein Stück Anerkennung wieder zu erlangen. Um die Deutungshoheit über sein Leben und das, was ihm wiederfahren ist, zu behalten. Sein Leben, beziehungsweise das, was nach dem ganzen Drama davon übrig geblieben ist.
Als er noch Soldat war, beschuldigte der Geheimdienst der Bundeswehr, der Militärische Abschirmdienst MAD, ihn des islamistischen Terrorismus. Er sagt, der MAD habe damit Vorgesetzte gegen ihn aufgebracht und ihn monatelang im Dunkeln über die Beschuldigungen gelassen. Er sagt auch, Kameraden hätten sich von ihm abgewandt.
Seitdem kämpft er verzweifelt um Wiedergutmachung, wenigstens finanziell. Es ist ein langer Kampf, der auch zeigt, wie wenig wir über die Arbeit der Geheimdienste wissen, und wie schwer es ist, sie zur Verantwortung zu ziehen.
Auch heute noch kämpft er und bittet im Oktober auch die Crowd um Hilfe, um gegen das Verteidigungsministerium zu klagen.
Seine Geschichte:
September 2012. Es ist ein ganz normaler Arbeitstag für den Soldaten, bis kurz nach der Mittagspause das Kommando kommt: "Die Chefin möchte Sie sprechen, schnappen Sie sich ein Auto!“
Der Feldwebel für elektronische
Kampführung erinnert sich noch gut, wie er sofort losgefahren ist. Sein Ziel ist die benachbarte Kaserne
der deutsch-französischen Eurokorps in Straßburg. Worum es geht, weiß der Soldat damals nicht.
Er hatte sich kurz zuvor für den Dienst in Afghanistan
beworben. Vielleicht, so denkt er, bestellt man ihn deshalb ein.
Angekommen, schickt man ihn in einen
kleinen Konferenzsaal. Seine Unruhe wächst, als er er davor drei seiner Vorgesetzten begegnet. "Die haben
nur mit dem Kopf geschüttelt und sind weitergegangen“, erinnert er sich. Dann beginnen die fünf Stunden, die sein Leben für immer verändern sollen.
Zwei Männer bitten ihn in den Raum. Sie stellen sich als Mitarbeiter des MAD vor, Abteilung Extremismus und Terrorismus. Dann hätten sie ihn ausgefragt, sagt er:
Dokumentiert sind diese Fragen nirgendwo. Auf Anfrage von
watson sagt ein MAD-Sprecher: Es habe sich um eine Routine-Befragung gehandelt,
weil es "bestätigte“ Hinweise auf einen islamistischen Hintergrund gegeben habe. 400 solcher Fälle gehe man im Jahr nach, um Soldatinnen und Soldaten zu schützen.
Der Soldat weiß damals nicht, um was es
in Wirklichkeit geht. Er habe keine Ahnung gehabt, erzählt er, warum er plötzlich in einem Verhör saß.
"Die haben mir ein Bild von meinem eigenen Führerscheinfoto gezeigt und mich gefragt, wer das ist", erzählt er. Die MAD-Männer hätten seine Handydaten und seine Kontoauszüge einsehen wollen. Dann hätten sie versucht, ihn zu verunsichern. "Wollen Sie sich mal das Näschen pudern gehen?“ Solche Fragen.
Die Situation erinnert den Soldaten an
einen schlechten Agenten-Film. Der MAD geht auf Anfrage von watson nicht darauf ein, ob sich das Gespräch wirklich so zugetragen hat.
Erst am nächsten Tag erfährt er von seiner Kompaniechefin, dass gegen ihn der Verdacht wegen "Tätigkeit im extremistischen Umfeld“ vorliegt. Ein Brief an das Verteidigungsministerium seitens des Eurokorps, der watson vorliegt, beschreibt die Vorwürfe so:
Eine weitere Stellungnahme des Ministeriums zeigt außerdem: Sowohl MAD
als auch Kompanie-Chefin gingen schon damals davon aus, dass es sich um eine
Verwechslung handeln könnte. Die MAD-Befrager selbst konstatieren: Er sei vermutlich der Falsche. Nur sagt das, aus welchen Grund auch immer,
niemand dem Soldaten. Doch dazu später mehr.
Das Verhör und der anschließende Vorwurf lassen ihn verstört und alleine zurück. Der erste Schock verwandelt sich schnell in Paranoia.
Er war 2010 in die Bundeswehr eingetreten, verpflichtete sich auf 15 Jahre.
"Viele fragen mich, wie ich nach nur einem Verhör so abstürzen konnte“, sagt er. "Aber meine Vorgesetzten sind mir aus dem Weg gegangen, das Verhältnis zu allen in der Truppe schien gestört zu sein", behauptet er. "Das Problem ist, dass niemand das Urteil eines Geheimdienstes anzweifelt."
So sieht er das, doch von Seiten der Bundeswehr heißt es, er hätte den Kontakt zu seinen Vorgesetzten überhaupt nicht gesucht.
Unter seinen Kameraden habe sich schnell herumgesprochen, dass Mitarbeiter des
Geheimdiensts ihn befragten. Gegen drei Soldaten legt er Beschwerde ein, sie hätten Gerüchte verbreitet. Mehr als eine Zurechtweisung gibt
es ihmzufolge nicht. Freundschaften gehen kaputt.
"Das Schlimmste war die andauernde Unwissenheit“, sagt er.
Der Soldat fühlt sich überall beobachtet. Er traut sich nicht mehr, in der Kaserne zu schlafen, pendelt stattdessen jeden Tag stundenlang in die Stadt. Nachts habe er anonyme Anrufe erhalten, kein Wort sei gefallen, dann sei wieder augeflegt worden. Am Ende wagt er nicht einmal mehr, abends in die Kneipe zu gehen. "Anstatt zu leben, lebt man nicht", sagt er.
Der MAD sagt zu watson, es habe nie eine Überwachung von gegeben. Aber der 28-Jährige versteht nicht, woher die Informationen stammen, die ihn als vermeintlichen Salafisten identifiziert haben wollen. Vielleicht, so denkt er, schaut die ganze Zeit jemand zu.
Der Soldat rutscht in dieser Zeit in eine tiefe Depression. Er sperrt sich in seine Wohnung ein, kann nicht schlafen, hat panische Phasen mit Weinkrämpfen. Sechs Monate nach dem Verhör weist ein Stabsarzt ihn in eine psychiatrische Klinik in Koblenz ein. Auf dem Krankenschein der Bundeswehr steht nur "Depression“.
Als er sich schließlich zum ersten Mal wieder in der Kaserne zurückmelden muss, steht da schon wieder ein MAD-Offizier.
Was nun passiert, schildern sowohl er als auch das Bundesverteidigungsministerium ähnlich.
Auch das Ministerium schreibt, man sei betont freundschaftlich auf ihn zugegangen, weil man um seinen Zustand wusste.
Woher die Informationen gekommen sind, die ihn zum Salafisten machten und wie der MAD gerade auf ihn kam, sagt der Mann ihm noch immer nicht.
Der MAD schreibt watson, man habe schon früh von der Verwechslung gewusst, habe den Soldaten aber nicht erreichen können. In früheren Medienberichten heißt es außerdem, der MAD habe wegen dessen psychischer Erkrankung von direkter Kontaktaufnahme abgesehen.
Wenn er das hört, schüttelt er wütend mit dem Kopf. "Die kannten meine Daten von der Adresse bis zur E-Mail, das ist der Geheimdienst, was soll heißen, die konnten mich nicht erreichen?"
Klar ist für den Soldaten: Die Entschuldigung macht die Situation nur noch schlimmer. Seine Depression kehrt zurück, er muss wieder in die Klinik. Insgesamt 18 Monate ist er krankgeschrieben. Im Oktober 2014 verlässt er schließlich die Bundeswehr. In seinem Zeugnis steht in dicken Buchstaben: "wegen Dienstunfähigkeit".
Nach seiner Entlassung, so erzählt er, sei ihm klargeworden: "Du hälst deinen Kopf hin für diese Nation, bist bereit, dein Leben zu geben und dann lassen die dich alleine."
In der Folgezeit versucht er, sein Leben auf die Reihe zu bekommen. Er
zieht nach Frankreich und arbeitet dort ein Jahr lang bei der Polizei. Ausgerechnet
in dieser Zeit überfallen Terroristen den Nachtclub Bataclan und töten Dutzende
Menschen. Er ist während der folgenden Tage im Einsatz auf der Straße, durchlebt die Panik der Franzosen ohne Filter.
Aber der Job ist schlecht bezahlt, für ihn schlicht keine Alternative zur Bundeswehr.
Er beschließt zu kämpfen, beantragt bei der Bundeswehr
erfolglos Entschädigung für die Verwechslung. Ein Anwalt des Bundeswehrverbands
sagt ihm, er habe sowieso keine Chance. Und so kommt es auch: Die Bundeswehr
verwehrt ihm eine sogenannte Wehrdienstbeschädigung. Begründung: Die Ermittlungen hätten ihn auch als zivile Person treffen können und nichts mit seiner Aufgabe
bei der Bundeswehr zu tun. Eine Rechtslücke.
Er tritt an die Öffentlichkeit und fängt an, E-Mails an die Presse zu schreiben. Erste Medien und Politiker werden auf den Fall aufmerksam.
Darin kommt auch die Bundestagsabgeordnete Christine Buchholz zu Wort. Sie fordert zum ersten Mal öffentlich Gerechtigkeit für den Soldaten. "Dier Fall muss aufgeklärt werden", sagt die Verteidigungspolitikerin der Linksfraktion.
Der grelle Alarm kommt ihm vor wie eine Gefängnis-Sirene. Kurz bevor er sich auf die Tribüne im Bundestag hockt, leitet ihn ein Angestellter der Abgeordneten Buchholz durch ein Labyrinth an Gängen. Die Linksfraktion hat dort ihre Büroräume.
Der Alarm ruft die Abgeordneten eigentlich nur zur Wahlurne, aber ihn macht er nervös. Einen Besucher-Ausweis haben sie ihm ans Sakko geklemmt. Jetzt trottet der Soldat, der einst so stolz in Uniform auf Fotos posierte, verunsichert hinterher Richtung Plenarsaal.
Bucholz
wird heute etwas für ihn tun, was sie nach eigenen Worten noch nie getan hat: Sie wird ihre Rede im
Bundestag ihm widmen. Sie wird erklären, dass bei aller Diskussion um
Ausrüstung bei der Bundeswehr eine Sache vergessen wird: Um die psychischen Probleme der Soldaten kümmere sich die Bundeswehr zu wenig, vor allem wenn die Truppe selbst der Auslöser für diese Probleme ist.
Sie wird ihn zum Prototypen machen für alle Ungerechtigkeiten, denen Soldaten ausgesetzt sind. Der ehemalige Soldat weiß durchaus, dass sein Fall instrumentalisiert wird. Immer wieder sagt er aber: "Das ist mir Recht, wenn sich dadurch etwas ändert."
Während er also schließlich auf der Bühne dem Wehrbeauftragten zuhört, wartet er eigentlich auf die Abgeordnete Buchholz. Sein Fall, das sagt er an diesem Tag oft, tauche überhaupt nicht im Jahresbericht von Bartels auf, auch wenn er ihn gemeldet habe.
Auch die eigens
für Soldatinnen und Soldaten eingerichtete Beratungsstelle für Missbrauch habe ihm nicht geholfen. "Keine Stelle innerhalb der Truppe will die Bundeswehr als solche belasten", wirft er vor. Jetzt soll ihm die Plenar-Rede einer Oppositions-Politikerin Gehör verschaffen.
Im Moment der Rede wirkt er starr. Aber danach ist er erleichtert. "Mein Name war Teil der Rüstungsdebatte im Bundestag", sagt er. Weniger grimmig, als stolz. "Das hat sie echt gut gemacht."
Die Verteidigungsministerin hat seine Geschichte gehört und auch der Wehrbeauftragte. Buchholz hat Bartels sogar direkt zum Handeln aufgerufen. "Ich bin wirklich gespannt, was jetzt passiert", sagt er.
Ob wirklich etwas passiert, lässt sich schwer sagen. Die rechtliche Lage spricht noch immer gegen ihn. Den Zusammenhang zwischen seiner Depression und der MAD-Befragung müsste er nachträglich nachweisen und selbst dann ist nicht klar, ob die Bundeswehr ihm Entschädigung zahlt.
Aber für den ehemaligen Soldaten war die Rede ein riesiger Schritt raus aus der Passivität. Keine Woche später hat er bereits einen langen Brief an Bartels geschrieben, in dem er noch einmal detailliert seine Geschichte aufdröselt und Fragen stellt.
Über die nächsten Monate wird er sich immer wieder bei Bartels melden. Zwischenzeitig sieht es sogar so aus, als könnten sich der MAD und das BMVg ofiziell beim Soldaten entschuldigen – aber daraus wird nichts. Der MAD lehnt es im Oktober dann sogar ab, überhaupt noch einmal mit ihm zu reden. Die Akte soll endgültig geschlossen werden.