Im NSU-Prozess vor dem Oberlandesgericht in München sollen bald die Urteile gesprochen werden. Vieles spricht dafür, dass Beate Zschäpe zu einer langen Haftstrafe verurteilt wird. Für den Nebenklage-Anwalt Mehmet Daimagüler ist der Kampf für Aufklärung damit jedoch nicht beendet. Wenn es sein muss, will er bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ziehen.
Die Morde
Die Neonazi-Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) ermordete zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine deutsche Polizistin und verübte mehrere Sprengstoffanschläge. Seit 2013 stehen die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe und weitere Angeklagte in München vor Gericht.
Doch was hat der Prozess für die Angehörigen der Opfer und für die deutsche Gesellschaft gebracht? Wie ist es um die Aufklärung bestellt? Über diese Fragen haben wir mit Mehmet Daimagüler gesprochen.
Der NSU-Prozess läuft seit etwas mehr als fünf
Jahren. Wie viel konnte in dem Verfahren bislang erreicht werden?
Der Nebenkläger-Anwalt
Mehmet Daimagüler ist Anwalt und vertritt im Münchner NSU-Prozess Angehörige der beiden NSU-Mordopfer Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar. Im November 2017 veröffentlichte Daimagüler außerdem sein Buch „Empörung reicht nicht! Der Staat hat versagt, jetzt sind wir dran. Mein Plädoyer im NSU-Prozess“.
Mehmet Daimagüler: "Wir sind sehr weit und überhaupt nicht weit zugleich. Das
Gute ist, dass wir die Schuld der Angeklagten sehr gut belegen konnten. Ich
glaube, dass insbesondere Beate Zschäpe zurecht als Mörderin angeklagt ist. Das
ist die gute Nachricht."
"Aber zugleich haben wir in drei wesentlichen Punkten das
Ziel der Aufklärung nicht erreicht. Zum einen bei der Frage nach der Größe des
NSU. Die Trio-These der Bundesanwaltschaft halte ich für groben Unfug, es gibt
zahlreiche Indizien, die dagegensprechen, dass es sich um eine isolierte Zelle
handelt."
"Der zweite Bereich ist die Rolle der
Verfassungsschutzbehörden. Die ist im ganzen Prozess vollkommen schleierhaft
geblieben. Wir haben von den Verfassungsschutzbehörden glaube ich nicht alle
Informationen bekommen, die wir hätten bekommen müssen."
Die Trio-These
Die Anklage der Bundesanwaltschaft basiert auf der Annahme, der NSU sei eine geschlossene Terror-Zelle aus drei Personen gewesen, das von weiteren Neonazis lediglich unterstützt wurde. Mehrere dieser mutmaßlichen NSU-Unterstützer sind neben Beate Zschäpe in München angeklagt. Für viele Beobachter des Prozesses und die Anwälte der Nebenkläger ist jedoch klar: Der NSU war kein relativ isoliertes Trio, sondern Teil eines viel größeren rechtsextremen Netzwerks, das teilweise sogar aus V-Leuten des Verfassungsschutzes bestand.
"Das dritte ist das Thema des institutionellen Rassismus, der die Ermittlungen der Behörden nach den NSU-Morden geprägt hat. Das war nur am Rande ein Thema und wurde lediglich von den Anwälten der Nebenklage thematisiert. Alle anderen, gerade die Bundesanwaltschaft, wollten am liebsten, dass zu diesem Thema gar nicht ermittelt wird.
Diese offenen Fragen führen dazu, dass Ziel des Strafverfahrens, nämlich die Wiederherstellung des Rechtsfriedens, nicht erreicht wird."
Was bedeutet das, den
Rechtsfrieden wiederherzustellen?
"Das würde bedeuten, dass die Öffentlichkeit beruhigt sein
kann, dass der Staat alles für die Aufklärung getan hat. Das würde auch
bedeuten, dass die Opferangehörigen damit abschließen können. Meine
Mandantinnen und Mandanten können das nicht."
Der NSU ist Geschichte. Rechte Terroristen gibt es noch immer
An den kommenden
Verhandlungstagen folgen noch Plädoyers der Verteidiger. Dann ist der
NSU-Prozess voraussichtlich bald vorbei. Wie wird es anschließend weitergehen?
"Es wird erstmal eine Revision geben. Ob wir uns da anschließen
oder nicht, hängt natürlich vom Urteil ab. Aber wir haben auch eine
Staatshaftungsklage eingereicht. Da sollen all diese Themen – vor allem der
institutionelle Rassismus – nicht mehr nur nebenbei behandelt, sondern zum
Hauptaugenmerk des Verfahrens werden."
Die Staatshaftungsklage
Im Namen seiner Mandanten verklagt Mehmet Daimagüler seit vergangenem Jahr den Staat – genauer gesagt die Länder Bayern und Thüringen und die Bundesrepublik Deutschland. Vordergründig geht es dabei um Schmerzensgeld, vor allem soll das Verfahren vor einem Zivilgericht aber weitere Aufklärung ermöglichen. Der Vorwurf an die Behörden: Sie hätten den NSU stoppen und die Täter festnehmen können, haben das aber nicht getan.
"Wenn es notwendig ist, werden wir bis zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gehen."
Glauben Sie denn daran, dass es noch zu einer umfassenderen juristischen Aufklärung kommen wird?
"Ja, ich glaube, dass die juristische Aufklärung weitergehen wird. Denn auch in der Zivilgesellschaft arbeiten mittlerweile sehr viele Menschen daran mit. Sowohl Universitäten, Initiativen wie NSU-Watch, aber auch Journalisten."
Aktivisten demonstrieren vor der hessischen Landesvertretung in Berlin.Bild: Christian Mang/imago stock&people
"Es wird vielleicht lange dauern und wir werden nicht alle Fragen beantworten können. Aber ich bin optimistisch, dass die Wahrheit sich ihren Weg bahnen wird. Wir sehen das im Fall Oury Jalloh in Dessau. Die Oury-Jalloh-Initiative hat dafür gesorgt, dass die Aktendeckel nicht zugehen. Und jetzt kommt wieder Bewegung in die Ermittlungen."
"Auch nach dem Oktoberfestattentat von 1980 in München wurden
die Ermittlungen damals eingestellt. 2015 wurden sie wiederaufgenommen, weil
Journalisten drangeblieben sind. Wir sind nicht so hilf- und machtlos, wie wir
uns manchmal fühlen. Ich glaube, dass wir als Bürger dieses Landes viel bewegen
können. Die Voraussetzung ist aber, dass wir etwas bewegen wollen."
Eine Wuppertaler
Zeitung berichtete kürzlich über den Besuch einer neunten Klasse in einer
Ausstellung über den Terror des NSU. Keiner der Schüler hatte zuvor etwas vom
NSU gehört. Wird zu wenig getan, um an die Opfer zu erinnern?
"Das ist zweifellos so, aber so funktioniert unsere
Gesellschaft leider. Wer spricht über die Opfer auf dem Weihnachtsmarkt in
Berlin? Wer spricht über die Opfer der Love Parade? Wir Menschen verdrängen und
vergessen gerne. Und bei spektakulären Verfahren konzentrieren wir uns sehr
stark auf die Angeklagten.
"Ich würde mir vor allem wünschen, dass wir die jungen Leute in den Schulen viel mehr zu streitbaren Demokraten erziehen."
mehmet daimagüler
"Dass sie verstehen, dass uns das als Land ausmacht, und dass unsere Verfassung nicht das Resultat von Naturgesetzen ist, sondern von menschlichem Willen. Er kann die Verfassung stärken, doch der menschliche Wille kann auch alles wieder zerstören."
Gedenkdemonstration für die Opfer der NSU in Berlin.Bild: Christian Mang/imago stock&people
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