"Als wäre Sachsens Imageschaden das Problem" – Ska Keller zu den Krawallen in Chemnitz
Warum Brandenburg das bessere Sachsen ist, AfD-Protestwähler auch für die Grünen interessant sind, mit Rassisten zu reden aber keinen Sinn macht – die grüne Europapolitikerin Ska Keller im Interview
watson: Dresden macht vor zwei Wochen mit dem LKA-Mann und Pegida
Schlagzeilen, jetzt jagen Rechte in Chemnitz Migranten durch die Stadt.
Erinnert Sie das auch ein bisschen an Ihre Kindheit im brandenburgischen Guben? Ska Keller: Ja, absolut. Dieses Gefühl von Rechtslosigkeit, vom
fehlenden Rechtsstaat, von dieser absoluten Unsicherheit. Gestern Abend hatten
wir eine lange Parteisitzung und ich bin mitten in der Nacht durch Berlin mit
dem Fahrrad gefahren. Zuhause in Guben hätte ich das nicht gekonnt. Besonders ärgert
mich, wenn sich Politiker jetzt um einen Imageschaden für Sachsen sorgen. Als
wäre das das Problem. Damals war das in Guben auch so. Aber Brandenburg hat
sich weiterentwickelt.
Das Problem wurde nach einer Weile klar benannt. Es heißt Rassismus.
Was unterscheidet Brandenburg von Sachsen? Dass in Sachsen der Ministerpräsident immer noch über das
Image redet, nicht darüber, dass Leute verprügelt und gejagt wurden und sich
nicht auf die Straße trauen. Das läuft schon so lange und es fehlt eine Ansage
von oben. Es macht eben einen Unterschied, ob bei Leuten der Eindruck entsteht:
„Eigentlich sind auch die Regierenden eher bei den Rechten.“ Und der Eindruck
entsteht in Sachsen.
Bild: imago/ZUMA Press
Ska Keller ist...
37, geboren im brandenburgischen Guben. Sie heißt eigentlich Franziska und wird mit 27 Jahren zum ersten Mal ins Europäische Parlament gewählt. Seit 2016 ist sie dort Ko-Vorsitzende der Grünen/EFA Fraktion. Außerdem ist sie Spitzenkandidatin für die europäischen Grünen bei der den Wahlen zum Europäischen Parlament im Mai 2019.
Wenn man sich die Zahlen anguckt, liegt Brandenburg, was
rechte Gewalt angeht, noch vor Sachsen. Es gibt in Ostdeutschland scheinbar ein
strukturell größeres Problem, als in Westdeutschland. Im Westen gibt es genauso Rassismus. Der äußert sich oft
anders. Wenn wir uns die ganzen Überfälle auch auf Flüchtlingsheime angucken,
dann sind es zwar mehr im Osten, aber auch sehr viele im Westen. In Guben gab
es früher ein großes Nazi-Problem. Jetzt gibt es Initiativen, die sich für Flüchtlinge
einsetzen. Früher kamen bei einer Nazi-Demo 100 Nazis und 20
Gegendemonstranten. Wenn dort jetzt eine Nazi-Demo stattfindet, kommen 30
Nazis, die aus Cottbus zusammengekarrt werden müssen und 300 Leute, die dagegen
auf die Straße gehen. Es hat sich schon etwas geändert in Brandenburg. Das
zeigt für mich aber auch: Dass man etwas machen kann.
Ostdeutsche Bundesländer führen die Statistik rechter Gewalttaten an:
Mit Blick auf die Bilder in Chemnitz, oder die
seit mehreren Jahren stattfindenden „Montagsdemonstrationen“ nicht nur in
Ostdeutschland: Welche Angebote hat ihre Partei eigentlich für diese Menschen?
Wie wollen Sie die in Ihr Europa integrieren? Es gibt Leute, die „Lügenpresse“ schreien und „Ausländer
raus“ – die kann ich nicht in meine Partei integrieren. Wir sind gegen
Rassismus und das ändert sich nicht.
Aber in der Tat dürfen wir nicht vergessen, dass es im AfD-Wählerspektrum Menschen gibt, die nicht die AfD wählen, weil sie AfD wollen, sondern die ein Vehikel suchen, um Protest zu äußern.
Die einem Gefühl Ausdruck verleihen wollen: „Ich werde nicht gehört.
Und wenn ich etwas wähle, das nicht konform ist, dann werde ich gehört.“ Und
gegen dieses Nicht-Gehörtwerden
muss man etwas machen.
Den klassischen Protestwähler einsammeln – das klingt nach Sahra Wagenknecht und ihrer Sammlungsbewegung. An sich ist es nicht völlig falsch, Protestwähler
einzusammeln. Was ich an Sahra Wagenknecht falsch finde, ist ihr „Wir kümmern
uns jetzt um die Deutschen“. Die Ausländerfeindliche stört mich daran. Aber:
Protest zum Ausdruck bringen, ist an sich keine schlechte Sache. Wir Grüne sind
ja auch gut in Protest. Die Frage ist nur: Wie äußert der sich? Und was tun wir
jetzt? Gucken wir nur auf das Ergebnis oder auch darauf, wo es herkommt? Und
bei den AfD-Wählern sind genug Rassisten dabei, die will ich nicht integrieren.
Aber dass der Staat sich nicht aus der Kleinstadt zurückzieht, dass Leute lokal
mitentscheiden können, das sind schon wichtige Dinge, die uns Grüne auch
umtreiben.
Kann man mit Rassisten reden? Nein. Mit dem Protestwähler auf jeden Fall. Aber wenn mir
jemand sagt, die Leute sollen im Mittelmeer ertrinken, sehe ich da keine
Gesprächsbasis.
Sie haben von Guben als Ihrem Zuhause gesprochen. Ist es
das nach wie vor? Wenn man sich Ihren Werdegang anschaut, bekommt man den
Eindruck, dass ihr Weg nach Europa auch eine Art Flucht war. Man kann ja mehrere Zuhause haben. Aus Guben komme ich, da
bin ich noch Mitglied im Kreisverband der Grünen und das ist ein wichtiger Teil
von mir. Europa ist aber auch mein Zuhause. Und ich habe auch ein Zuhause in Berlin.
Und wenn ich mal in einem Hotelzimmer schlafe, sage ich genauso: „Ich gehe
jetzt mal nach Hause.“
Der Tag in Chemnitz in Bildern:
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Der Tag in Chemnitz in Bildern
Bei den Protesten in der Chemnitzer Innenstadt seien Feuerwerkskörper und Gegenstände geworfen worden, hieß es bei der Polizei.
quelle: ap / jens meyer/ap
Wenn Sie in Brüssel oder Strasbourg unterwegs sind: Haben
Sie da manchmal Momente, in denen Sie denken: „Jetzt bin ich aber wirklich
ostdeutsch.“? Wenn Leute sagen, es seien so viele Deutsche im Raum. Da sage
ich dann: „Sorry, aber ich bin die einzige Ostdeutsche.“ Das ist aber eher
Spaß. Innerhalb vom deutschen Diskurs finde ich das viel störender, wenn Leute
von deutscher Geschichte reden, aber nur die westdeutsche meinen.
Dieses Gefühl, sich erklären zu müssen, kenne ich aber auch
aus meinem Beruf. In europäischen Medien soll ich immer die deutsche Position
erklären, ich sage dann: „Sorry, ich bin nicht die Regierungsvertretung,
sondern Grüne.“ Und in Deutschland soll ich dann die EU erklären, da sage ich:
„Sorry, aber ich bin nicht die Kommissionssprecherin, ich bin von den Grünen und
wir haben unsere eigenen Ideen.“ Das ist mein Leben, das nervt manchmal, aber
ist ja auch verständlich.
2009 war das inoffizielle Motto der Europa-Wahlen: „Nicht
nur Opa für Europa.“ Wenn heute Europawahl wäre, was wäre das Motto? Das Motto wäre „Einstehen für Europa und Europa verändern.“
Europa an sich steht ja zurzeit zur Debatte. Lange Zeit war das gerade für
Leute aus unserem Alter nicht so. Wir sind mit Europa aufgewachsen. Haben es
als selbstverständlich genommen. Auch wir als Grüne haben unglaublich viel, was
wir in Europa verändern wollen. Aber wir wollen dieses Europa auch schützen und
verteidigen.
Chemnitz: watson-Reporter Felix Huesmann berichtet vor Ort:
Video: watson/Felix Huesmann, Lia Haubner
Gleichzeitig spielt das Europäische Parlament in
Geflüchteten-„Krisen“-Zeiten medial keine Rolle. Die Regierungschefs machen
Politik. Wo ist Ihre Stimme eigentlich als Parlamentarierin? Wir haben ein großes Problem, dass in Krisenzeiten und die
sind ja dauerhaft die Staats- und Regierungschefs alles allein entscheiden
wollen, obwohl sie es ja nicht tun. Es wird nichts entschieden, sondern auf den
nächsten Gipfel verschoben, bei dem dann auch wieder nichts passiert.
Eigentlich waren wir ja schon viel weiter in Europa. Aber als Parlament sind
wir sehr gut in der Lage, Antworten und Lösungen zu erarbeiten. Allein in der
Flüchtlingsfrage: Das Parlament hat immer gesagt, dass wir eine faire und solidarische
Verteilung brauchen. Wir haben jetzt zum Beispiel das Dublin-System reformiert
und eine breite Mehrheit von Konservativen bis Linken im Parlament für eine
faire, solidarische Verteilung. Bei uns sitzen dieselben Parteien aus denselben
Ländern, die auch regieren.
Wir schaffen das als Parlament und die Regierungschefs schaffen das nicht. Da frage ich mich, warum? Klar ist auch: am Europaparlament vorbei kann niemand entscheiden.
Gab es bei Ihnen schon den Moment, in dem Sie gedacht haben: "Oh nein, Europa könnte
doch scheitern." Ja, es kann eben scheitern. Wir dürfen es
nicht selbstverständlich nehmen, weil das ist es nicht. Wir müssen uns
entscheiden: Wollen wir es oder wollen wir es nicht. Und was tun wir dafür,
wenn wir es wollen? Das ist wie mit der Demokratie. Dafür muss man immer etwas
tun. Ich habe auch immer gedacht: Europa ist eben da. Das habe ich das erste
Mal in Frage gestellt, als Griechenland
das neueste Memorandum aufgedrückt wurde. Da war klar, dass da so viel
Sprengpotenzial drin ist. Für mich war das der Anfang der strukturellen Krise,
in der wir heute sind.
Wenn man sich die Umfragen ansieht, dann ist die
Wahrscheinlichkeit groß, dass nach den Europawahlen im Mai 2019 noch mehr
Anti-Europäer im Parlament sitzen. Kann gut sein.
Das Arbeiten wird nicht angenehmer. Nein, aber das haben wir die letzten Male auch schon erlebt.
Interessanterweise stört das die Ausschussarbeit kaum, weil die sich daran
nicht beteiligen. Die machen nur Ärger im Plenum. Das ist ein politisches
Problem und auf der Ebene sollte man es auch bekämpfen. Wir müssen versuchen,
dafür zu sorgen, dass sie nicht wachsen.
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