14 Jahre nach der Einführung von Hartz IV überprüft das Bundesverfassungsgericht am Dienstag ein Kernstück der Reform. Es geht um die Sanktionen, die Empfängern der Grundsicherung drohen, wenn sie ihren Pflichten nicht nachkommen. Und um die Grundsatzfrage: Wie hart darf der Staat Hartz-IV-Empfänger eigentlich bestrafen? Das Urteil wird in einigen Monaten erwartet.
Seit der Zusammenführung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu Hartz IV unter Kanzler Gerhard Schröder (SPD) weht für die Bezieher ein rauerer Wind. Jede Arbeit ist zumutbar, heißt seit 2005 der Grundsatz. Wer staatliche Hilfe in Anspruch nimmt, ist verpflichtet, sich aktiv darum zu bemühen, dass das so bald wie möglich nicht mehr notwendig ist. Diejenigen, die diesen Ansprüchen nicht gerecht werden, straft das Zweite Sozialgesetzbuch mit Leistungskürzungen.
Betroffene bekommen drei Monate lang weniger Geld. Wie viel gestrichen wird, hängt von der Schwere der Verfehlung ab. Wer ohne triftigen Grund einen Termin beim Jobcenter versäumt, büßt zehn Prozent des sogenannten Regelsatzes von aktuell 424 Euro für alleinlebende Erwachsene ein. Wer ein Jobangebot ausschlägt oder eine Fördermaßnahme abbricht, setzt 30 Prozent aufs Spiel - beim zweiten Mal binnen eines Jahres 60 Prozent und beim dritten Mal das komplette Arbeitslosengeld II, samt Heiz- und Wohnkosten. Bei jungen Menschen unter 25 Jahren wird besonders hart durchgegriffen. Weitreichende Sanktionen können die Jobcenter mit Gutscheinen für Sachleistungen wie Lebensmittel abmildern. Sind Kinder betroffen, müssen sie das.
Im Moment verhängen die Jobcenter grob gerundet knapp eine Million Sanktionen im Jahr, in gut drei Viertel der Fälle wegen nicht eingehaltener Termine. Weil gegen dieselbe Person mehrmals Sanktionen verhängt werden können, ist die Zahl der Betroffenen niedriger. Nach den neuesten Zahlen von 2017 waren im Jahresdurchschnitt rund 136 800 Erwerbsfähige mit mindestens einer Sanktion belegt, das entspricht einer Sanktionsquote von 3,1 Prozent. Über den gesamten Jahresverlauf betrachtet wurden etwa 34.000 Beziehern die Leistungen komplett gestrichen.
Wegen einer Vorlage des Sozialgerichts Gotha. Dort hat der Mann geklagt, dem in Erfurt 2014 zweimal die Leistungen gekürzt wurden. Erst, weil er eine Stelle als Lagerarbeiter ablehnte und lieber im Verkauf arbeiten wollte. Dann wollte ihn das Jobcenter im Verkauf testen, aber er ließ den Gutschein fürs Probearbeiten verfallen. Die Thüringer Richter halten die Sanktionen für verfassungswidrig. Sie meinen: Wenn Hartz IV das Existenzminimum sichert, gibt es keinen Spielraum für Kürzungen. Der Staat lasse die Betroffenen in soziale Isolation, Krankheit, Schulden und Obdachlosigkeit abgleiten.
Wegen eines Verfassungsgericht-Urteils von 2010 musste die Politik schon einmal bei Hartz IV nachbessern, damals bei den Regelsätzen. Das Grundgesetz sichere "jedem Hilfebedürftigen diejenigen materiellen Voraussetzungen zu, die für seine physische Existenz und für ein Mindestmaß an Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben unerlässlich sind", urteilten die Richter. Wie das konkret umgesetzt wird, liegt demnach aber beim Gesetzgeber - Karlsruhe kontrolliert nur, ob Leistungen "evident unzureichend" sind. Ihre wichtigsten Fragen zu den Sanktionen haben die Richter vorab veröffentlicht. Sie wollen zum Beispiel nachhaken, wie Härten abgefangen werden und ob die Kürzungen überhaupt etwas bringen.
Der Erste Senat unter dem neuen Vizegerichtspräsidenten Stephan Harbarth berät im Geheimen. Das Urteil dürfte in einigen Monaten verkündet werden. Gibt es Beanstandungen, müsste das System zumindest in diesen Punkten reformiert werden. So oder so wird in Berlin derzeit heftig über Änderungen diskutiert. Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) will beispielsweise die scharfen Sanktionen für Unter-25-Jährige und die Kürzungen bei den Wohnkosten abschaffen.
(Anja Semmelroch, dpa, ts)