Özil geht, der Hambacher Forst bleibt, Chemnitz schreckt auf – 2018 war turbulent. Auch für uns: watson.de startete im März. Auf einige Geschichten sind wir seitdem besonders stolz. Wie auf diese hier:
ich war eins von Millionen Kindern in Deutschland, die von Hartz IV leben. Wenn jetzt ein paar von euch über ein "solidarisches Grundeinkommen" sprechen, und das “Ende von Hartz IV” vorhersehen, dann denke ich vor allem zurück an das Jahr 2010.
Ich war da ungefähr 16 Jahre alt und das Bundesverfassungsgericht entschied, dass die Hartz-IV-Sätze neu berechnet werden müssen. Endlich zählt mal jemand zusammen. Dachte ich. Endlich checkt jemand, dass man mit so wenig Geld nicht leben kann. Aber niemand hat es gecheckt.
2010 nicht – und auch für 2018 mache ich mir keine Hoffnungen. Während des Wahlkampfs 2017 habt ihr euch nicht getraut, zu sagen: “Hey, Hartz IV, das war irgendwie eine doofe Idee, da sollte man dran arbeiten.” Das wäre lässig gewesen. Wenn ihr den Mut gehabt hättet – ich hätte euch gewählt.
Stattdessen habt ihr jetzt richtig Druck vor lauter angestauter Reformationslust. Also fix zwei Schlagworte für eine etwas bessere Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ausdenken, die ihr eh nicht durchsetzt. Deutschland regieren, das ist ein wichtiger Job. Meine Familie ist davon abhängig, ob ihr ihn gut macht.
Große Worte wie “solidarisches Grundeinkommen” verschwenden Zeit, in der ihr tatsächlich etwas ändern könntet.
Kleine Dinge, die das Leben meiner und anderer Familien besser machen würden. Ich habe euch da mal eine Liste gemacht:
Seit 2011 gibt es das "Bildungspaket" – die Idee sollte Gerechtigkeit für Kinder aus armen Familien schaffen. Direkt in dem Jahr hat meine Lehrerin einen Antrag für mich gestellt, weil ich einen Englisch-Test machen wollte, für den ich wochenlang einen Extrakurs belegt hatte. Die 200 Euro für die Prüfung hatte ich aber nicht, denn im Hartz-IV-Satz ist nur ein Euro pro Monat für “Bildung” vorgesehen. Ich hätte also 16 Jahre vorher anfangen müssen, auf diesen Test zu sparen. Am Ende hat der Förderverein meiner Schule die Gebühr für mich übernommen. Denn die Bildungs-Zuschüsse gibt es nur für Kinder, die schlecht in der Schule sind und Nachhilfe brauchen. Nicht für Kinder, die gut in der Schule sind und noch mehr lernen wollen.
Mit 16 habe ich meinen ersten eigenen Brief vom Jobcenter gekriegt. Ich solle doch bitte zu einem Beratungsgespräch kommen, um zu besprechen, was für eine Ausbildung ich jetzt mache. Wenn ich nicht erscheine, würden sie meine Hartz-IV-Bezüge kürzen. Dass es überhaupt Sanktionen gibt – also, dass Arbeitslose weniger Geld bekommen, weil sie nicht zu Terminen kommen – ist unmenschlich. Dass man Schülerinnen damit droht, ist doppelt so schlimm.
Mit 15 habe ich angefangen, an Wochenenden für die Lokalzeitung zu schreiben. Ich habe 18 Cent pro geschriebene Zeile bekommen. Aber anstatt mich zu freuen, wenn ein Text mit 100 Zeilen erschien, hatte ich Angst, mehr als 100 Euro im Monat zu verdienen. Denn das wäre auf die Bezüge meiner Familie angerechnet worden – ich hätte das Geld wieder abgeben müssen.
Wenn das Kindergeld erhöht wird, wird gefeiert – ist ja schließlich sozial. Aber bei denen, die wirklich arm sind, kommt das nicht an. Denn das Kindergeld zählt als “Einkommen” des Kindes. Es wird dir abgezogen. Wer von Hartz IV lebt, bekommt also quasi kein Kindergeld. Dabei könnten diese 190 Euro für Familien, die eh nichts haben, die Welt bedeuten. Eine Kinokarte, eine neue Hose, ein Stapel Schulhefte. Mir hätten sie das Gefühl gegeben, dass diese Gesellschaft mich als Menschen sieht und nicht als Zecke.
Für mein Studium habe ich ein Stipendium bekommen. Von einer großen, eher linken Stiftung. Bei einem Seminar diskutierten wir übers NPD-Wählen (die AfD gab es noch nicht). Der Typ, der neben mir saß, sagte, das wäre sowieso etwas für "irgendwelche asozialen Hartz-IV-Nazis". Um uns herum saßen zehn junge Menschen mit Einser-Abi. Niemand hat ihm widersprochen. Hartz IV ist ein Synonym für Idiot, ein Synonym für Außenseiter, ein Synonym für Verlierer. Damit das nicht mehr so ist, müsste man Arbeitslosen ihre Würde zurückgeben. Natürlich ist Arbeiten angenehmer, als arbeitslos sein. Aber es gibt nicht für jeden Menschen einen Job. Denen, die Pech haben, sollte man deshalb mit Respekt begegnen.