In Hochfeld sitzt Anna Zalac, 37, in einer Wohnung im Erdgeschoss, die das Rote Kreuz angemietet hat. Sie ist seit drei Jahren die Leiterin des Familienbildungswerks des Roten Kreuzes (DRK) in Duisburg. Ob in der Zentrale des DRK oder eben in dieser Außenstelle in Hochfeld – Anna Zalac ist schon da, selbst wenn man unangekündigt auftaucht, sie scheint überall gleichzeitig zu sein, weil sie überall gebraucht wird. Denn bei ihr laufen die Fäden der Hilfsangebote für Roma zusammen.
Sie erzählt. Von den Hebammen, die sie durch die Straßen schickt und die jugendliche Mädchen aus Romafamilien ansprechen und beraten. Einige seien schwanger, andere fragten: "Was ist falsch mit mir? Ich bin 14 und kann nicht schwanger werden."
Und sie erzählt von der bulgarischen Romni Fanni, die für sie arbeitet. Fanni ruft andere Romnis an oder holt sie auch mal ab und bringt sie dann zu den Treffen, die in der Erdgeschosswohnung stattfinden. "Beim gemeinsamen Mittagessen hängen wir dann Themen auf." So funktioniere der Zugang zu den Roma.
Schulpflicht, auch so ein Thema, das Anna Zalac auf ihrem Zettel hat. Und ein Thema, das die Missverständnisse zwischen den Kulturen sehr deutlich zeigt.
Eine kleine Chronologie:
Anna Zalac sieht das alles pragmatisch.
Duisburg-Marxloh. Problemviertel. Großmoschee. Ausländer und Armut. Ghetto. No-Go-Area. Parallelgesellschaft. Noch so ein stigmatisiertes Stadtviertel, über das viele eine Meinung haben, aber das wenige wirklich kennen. Die Merkez-Moschee ist eine der größten in Deutschland und die funkelnden Brautmodengeschäfte wirken auf den ersten Blick vielleicht wie ein Fremdkörper in dieser bodenständigen Arbeiterstadt.
Aber eine No-Go-Area ist Duisburg-Marxloh sicher nicht. Das eigentliche Problem ist hier wie in anderen Duisburger Stadtteilen nicht die Zuwanderung.
Es ist die Armut.
Auf der Mittelstraße, mitten in Marxloh also, steht eine riesige Kirche, St. Peter, daneben eine Kita, eine Kantine, ein Jugendtreff, ein Boxclub, eine Kleiderkammer. Anlaufstelle für alle, die Schwierigkeiten haben, in die Gesellschaft hineinzufinden: arabische, türkische und deutsche Jugendliche, Flüchtlinge, verarmte Rentnerinnen. Und auch Romafamilien.
Oliver Potschien hat den Petershof aufgebaut, sein "sozialpastorales Zentrum". Pater Oliver, so nennen ihn alle hier, ist so etwas wie der heimliche Bürgermeister Marxlohs. Wer wissen will, was in Marxloh abgeht, landet bei ihm. Angela Merkel hat ihn hier schon getroffen, zum Problemviertel-Besuch.
Pater Oliver regt sich auf über die Polizei auf, die die Roma und andere Bewohner Marxlohs mit Migrationshintergrund im vergangenen Jahr gegängelt hätte. Er ärgert sich über das Jobcenter, in dem mancher Mitarbeiter sich bei Anträgen so verhalte, als ginge es um sein Privatvermögen, das er den Roma überweisen müsse.
Was man nicht sieht, wenn er am Schreibtisch sitzt: Untenherum trägt er eine Arbeitshose, in der zwei Kugelschreiber stecken. Duisburger Pragmatismus.
Etwas müde lächelt der Pater, während er das sagt. Er hat das Gefühl, die Leute kommen an, es funktioniert. "Man muss sie eben ins System holen und die Tür aufmachen." Das klappt nicht bei allen, für manche, "im Humboldt'schen Sinne sehr Ungebildetete" habe auch er kein Rezept. "Aber die Kinder können wir erreichen. Bloß, nach Marxloh mit dieser Gemengelage, müssen die besten Leute hin."
Die besten Lehrer, Erzieher und Helfer. Die Marxloh gerade nicht hat. Vielleicht auch deswegen nicht, weil die Stadt Duisburg mit ihren etwa zwei Milliarden Euro Schulden zum Sparen verdonnert ist.
Nebenan befindet sich eine Anlaufstelle für zugewanderte Rumänen und Bulgaren, die meisten sind Roma. Im Vorraum stehen wie in einem Wartezimmer beim Arzt Stühle an der Wand.
Hier sitzen rund zehn Frauen und tratschen. Sie sehen ein wenig so aus, wie die Frauen in pompösen Ölgemälden, eingehüllt in Polyester-Felle mit Tigerstreifen, sie tragen große, goldene Ringe in den Ohren, manche haben goldene Zähne im Mund, ihre Füße stecken in Pantoffeln. Die Kinder flitzen durch den Raum, das Wort "Jobcenter" fällt immer wieder in gebrochenem Deutsch.
Was ist denn damit?
Im Büro der studierten Sozialpädagogin Nursel Kayikci, 36 Jahre alt, geht es abgehetzt zu, haufenweise Papierkram steht an. Hunderten Familien hat sie schon bei Abrechnungen, Anmeldungen, Kindergeld und Leistungen vom Arbeitsamt geholfen. Alleine schaffen die neuen Duisburger den Papierkram nicht. Also auch an diesem Dienstag im Februar wieder im Akkord: hinsetzen, Tür zu, Papiere raus.
Früher hat Nursel Kayikci in ihrer Pause geraucht, jetzt quatscht sie nur.
Und diese Anträge auf Kindergeld bereiten Nursel Kayikci und den Romafamilien Probleme. In einem Fall, der watson vorliegt, will die zuständige Familienkasse-West folgende Unterlagen haben:
Nursel Kayikci und ihre Familien schaffen es kaum, die Fülle von Unterlagen zusammenzukriegen, um den Antrag bewilligt zu bekommen. Zur Beantragung von Kindergeld reichen EU-Bürgern in Deutschland üblicherweise eine Meldebescheinigung und die Geburtsurkunde des Kindes.
Als wir die Bundesagentur für Arbeit, zu der die Familienkasse gehört, mit dem Vorwurf konfrontieren, die Behörde blockiere Anträge von Romafamilien, sagt ihr Sprecher:
Der Hintergrund dafür, warum die Familienkasse so genau bei manchen Romafamilien nachfragt, liegt im Leistungsmissbrauch: Wie die "Welt" im Mai berichtete, würden kriminelle Netzwerke Familien aus Osteuropa nach Deutschland schaffen, um Kindergeld zu beantragen, das diesen Familien vorenthalten werde. Laut einem internen Bericht der Bundesagentur, der watson vorliegt, steht insbesondere auch Duisburg im Fokus der Banden.
Die Bundesagentur für Arbeit setzt auf Datenabgleich mit anderen Behörden, um Sozialbetrug zu bekämpfen. Dabei hat die Behörde Zugriff auf einen Großrechner, in dem verschiedene Ämter wie Sozialamt, Wohnungsamt, Feuerwehr, oder Zoll Informationen über Verdachtsfälle speichern, sagt der Sprecher der Bundesagentur.
In den Augen von Nursel Kayikci seien solche Kontrollaktionen problematisch, und zwar dann, wenn sie wie in ihren Fällen die Falschen träfen. Da würde an der Zukunft der Kinder gespart.
Martina Schwarzer* kniet über Ordnern auf dem Boden ihres Büros in der Duisburger Innenstadt, ihr Smartphone klingelt ununterbrochen. Neben ihr stehen zwei mit Quittungen und Schriftstücken bedeckte Schreibtische, in dem Büroraum lagern außerdem: ein goldverzierter, massiver Marmortisch, ein Spiegel, ein Schrank, alles ein Guss.
Martina Schwarzer verwaltet mehrere Häuser eines Eigentümers in Duisburg. In der Stadtmitte sind die Wohnungen so groß, dass sie einzelne Zimmer vermietet. An Studenten, Alleinerziehende, Arbeitslose, Flüchtlinge und eben auch Rumänen und Bulgaren, die sich auf ihre Aushänge gemeldet haben. Die sich nur ein einzelnes, möbliertes Zimmer leisten können, mit Gemeinschaftsküche und -bad.
*Martina Schwarzer heißt eigentlich anders, aber manchmal wird ihre Miete von Männern vorbeigebracht, die sehr teure Autos fahren und sehr dicke Geldbündel dabeihaben. Deswegen möchte sie lieber anonym bleiben.
Noch einen Zug an ihrer Zigarette, dann blickt Martina Schwarzer von den Nebenkosten-Abrechnungen im Ordner auf ihr Handydisplay. Endlich drückt sie auf den grünen Hörer:
Sie sitzt auf den Knien auf dem Kuhfell, und isst ein Stück kalte Pizza. Wieder Duisburger Pragmatismus.
Dann erzählt sie:
Überwiegend laufe es gut, sagt sie. Es sei eben mühsam, und es dauert. Die Sache mit den selbstgemachten Würstchen, die im Hausflur zum Trocknen hingen. Das war witzig.
Allerdings gab es auch schon Zwischenfälle wie den Folgenden. Ein Jobcenter-Mitarbeiter rief an und fragte:
Schwarzer stellt ihren Mietern Bescheinigungen zur Vorlage bei Ämtern aus. "Ich musste zwei Mal hinsehen, so gut war meine Unterschrift gefälscht", sagt sie.
Wenn Unterschriften gefälscht werden, geht es meistens um Meldebescheinigungen, die mutmaßliche Betrüger zur Vorlage bei Ämtern brauchen.
Dahinter stecken meistens organisierte Banden. Martina Schwarzer bekomme das nur am Rande mit, wenn das Amt sie anrufe, weil wieder Fälschungen aufgetaucht seien.
Für die Stadt und die Bundesagentur für Arbeit liegt das Problem bei kriminellen Schlepperbanden, die den Behörden zufolge Menschen aus Südosteuropa nach Deutschland holen, wo sie "immer wieder Opfer von skrupellosen Vermietern" würden. Diese Banden würden dann Anträge wie etwa jene auf das Kindergeld ausfüllen und die Einnahmen auf Kosten der Familien abschöpfen.