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Kein Hartz IV für Unter-50-Jährige? Das sagt ein Wirtschaftsprofessor dazu

Shoes of people doing a line in a casting for a catwalk - Barcelona
Bild: iStockphoto
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Kein Hartz IV für Unter-50-Jährige? Das sagt ein Wirtschaftsprofessor dazu

28.04.2018, 15:2730.04.2018, 07:44

Wenn es nach der Mittelstands- und Wirtschaftsvereinigung der Berliner Union (MIT) geht, sollten arbeitsfähige Bürger unter 50 Jahren kein Hartz IV mehr bekommen. 

Das sagte Christian Graeff, MIT-Vorsitzender und wirtschaftspolitischer Sprecher der CDU-Abgeordneten, der "Berliner Morgenpost" in einem Interview.

"Es ist bei der derzeitigen Situation am Arbeitsmarkt nicht einzusehen, dass Menschen, die 25 oder auch 45 Jahre alt sind, zu Hause sitzen und Hartz IV beanspruchen können", sagte Graeff.

"Das ist gewissermaßen ein bedingungsloses Grundeinkommen."
graeff in interview mit der "Berliner morgenpost"

Berlins Regierender Bürgermeister Michael Müller hatte sich vor Kurzem für ein solidarisches Grundeinkommen eingesetzt.

Solidarisches Grundeinkommen, bedingungsloses Grundeinkommen, kein Hartz IV mehr für Menschen unter 50 Jahren – was würde da eigentlich ein Ökonom sagen? 

Prof. Marcel Fratzscher
Prof. Marcel FratzscherDIW Berlin/B. Dietl

watson hat mit dem Vorsitzenden des Deutschen Instituts für Wirtschaft (DIW) Prof. Marcel Fratzscher gesprochen.

Lest hier das Interview:

Herr Fratzscher, was halten Sie vom Vorschlag der CDU-Wirtschaftspolitiker?

Ehrlich gesagt, habe ich zuerst gedacht, das sei ein schlechter Witz, ich musste wirklich drei Mal hinschauen. Dann könnte man Hartz IV ja auch direkt abschaffen für Menschen unter 85 Jahren und dabei noch mehr Geld sparen. 

Ich glaube, die Menschen, die das fordern, verstehen nicht, worum Hartz IV oder soziale Absicherung wirklich geht.

Was denken Sie, warum der Vorschlag nun kommt?

In Deutschland fühlen sich viele Menschen abgehängt und unfair behandelt. Das erklärt auch, warum die AfD so stark geworden ist. Das macht der CSU jetzt riesige Sorgen in Bayern, dass sie da ihre absolute Mehrheit verpasst.

Wenn ich jetzt mit 29 Jahren plötzlich Mutter würde, hätte ich also gemäß dieser Forderung keinen Anspruch auf Hartz IV?

Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass man alleinerziehenden Eltern, oder überhaupt Eltern sagt: 'Pech gehabt, ihr kriegt hier kein ALG mehr'. Ich glaube kaum, dass das rechtens wäre, weil man auch den Kindern massiv Schaden zurichtet.

Was in diesem Vorschlag steht, ist ja fast ein Vorwurf. Nämlich, dass Leute sich auf die faule Haut legen und endlich mal was tun müssten. 
Und das ist ein völlig verqueres Verständnis davon, welche Aufgabe der Sozialstaat und Hartz IV in Deutschland hat.

Und welche Aufgabe ist das?

Es geht darum, Menschen erst einmal eine Absicherung zu geben, dass sie auch wieder Chancen bekommen können.

Eine kluge Sozialpolitik sollte Menschen in die Lage versetzen, eigenverantwortlich und selbstständig Entscheidungen zu treffen und ihnen ermöglichen, so schnell und gut es geht, wieder in den Arbeitsmarkt zu kommen. 
Viele sind jetzt schon in Hartz IV gefangen.
Das ist so knapp bemessen, dass man nicht mehr wirklich Teilhabe am gesellschaftlichen Leben hat und damit größere Schwierigkeiten, wieder zurück in den Arbeitsmarkt zu kommen.

Hartz IV vererbt sich außerdem häufig. Fast jedes 3. oder 4. Kind in Deutschland wird in einem Hartz IV-Haushalt groß.

Woran liegt das?

Das liegt sicherlich an mindestens zweierlei Dingen.

Das eine sind die Lebenschancen. Wir wissen, dass in Deutschland der Bildungsabschluss und Arbeit und Einkommen extrem stark vom Einkommen und der Bildung der Eltern abhängt. Wir haben dazu Studien gemacht: Mehr als die Hälfte des Einkommens eines Menschen in Deutschland wird durchschnittlich durch diese zwei Faktoren erklärt – dem Einkommen und der Bildung der Eltern.

Ein konkretes Beispiel: Eltern, die von Hartz IV leben, haben keine Möglichkeit, mit ihrem Kind mal auf eine Reise zu gehen oder Förderungen wie Musikunterricht zu ermöglichen. 

Das zweite: Menschen brauchen Vorbilder. Und natürlich sind das vor allem in der frühkindlichen Zeit die Eltern. 
Deshalb richtet es großen Schaden an, wenn Kinder das Gefühl haben: 'Das ist so, das muss so sein, dass Mama Hartz IV kriegt.'

Herr Graeff spricht bei Hartz IV bei jungen, arbeitsfähigen Menschen von einem "bedingungslosen Grundeinkommen". Kann man das so sehen?

Erstens: Das ist sehr manipulativ von ihm, denn wenn wir von einem bedingungslosem Grundeinkommen sprechen, geht es immer darum, dass Menschen ein gutes Auskommen haben. Also 1.000 Euro pro Person. Heißt, bei einer vierköpfigen Familie auch 4.000 Euro.

Das ist natürlich etwas anderes, als wenn eine vierköpfige Familie von Hartz IV lebt, also sehr viel weniger bekommt. 
Das ist überhaupt nicht miteinander vergleichbar.
Zweitens: Jobcenter und Behörden verhängen häufig Strafen für Hartz IV Empfänger, die nicht nachweisen können, dass sie sich ausreichend bemüht oder andere Vorgaben erfüllt haben. Denen wird dann das Geld nochmal gekürzt. Also wenn man abzüglich allem 300 bis 400 Euro im Monat zur Verfügung hat, was schon extrem wenig ist, und dann nochmal eine Kürzung davon hat: Dann ist das verdammt hart.

Das als bedingungsloses Grundeinkommen darzustellen und zu suggerieren, davon könne man gut leben, ist eine sehr harte Aussage, die faktisch einfach nicht stimmt.​

Bedingungsloses Grundeinkommen oder kein Hartz IV unter 50 – was ist hilfreicher?

Es geht um das berühmte Fördern und Fordern. Man will etwas von den Menschen, aber man will ihnen natürlich auch helfen. Diese Balance zu finden wäre wichtig. Es benötigt beides.

Und da kann man auch nicht sagen: 'Bedingungsloses Grundeinkommen, hier habt ihr Geld, ihr seid auf euch allein gestellt, macht was draus.' Das funktioniert genau so wenig, wie der jetzige Gegenvorschlag, mal richtig hart zu bestrafen. Also das maximale Fordern und nicht Fördern.
Diese beiden Extreme werden nicht funktionieren.
Weder das bedingungslose Grundeinkommen, da es vielen Menschen bei Hartz IV nicht in erster Linie um Geld geht, das ihnen fehlt, sondern um Qualifizierung, eine Aufgabe, eine Chance. Die Menschen haben oft gesundheitliche, psychische Probleme und das wird sich – wenn man sie jetzt noch härter behandelt – noch verschlimmern. Man braucht ein Mittelding.

Und dieses Mittelding wäre ein solidarisches Grundeinkommen?

Das solidarische Grundeinkommen ist sicher nicht der große Wurf und wird auch nicht alle Probleme lösen. Das ist ja vor allem auf Langzeitarbeitslose ausgerichtet.
Ein starkes Problem, das ich in Deutschland sehe: Den sehr großen Niedriglohn-Bereich.
Jeder 5. Arbeitnehmer oder jede 5. Arbeitnehmerin – übrigens sehr viel häufiger Frauen als Männer – arbeiten atypisch, also zu sehr geringen Löhnen, um den Mindestlohn herum. Und das solidarische Grundeinkommen schaut nur auf die Arbeitssuchenden, man sollte aber auch auf die schauen, die arbeiten. Und die Arbeit und Leistung, die die bringen honorieren. Das ist mindestens ein genau so großes Problem wie Langzeitarbeitslose.

Und: Jede zweite alleinerziehende Mutter lebt in Deutschland mit ihren Kindern unter der relativen Armutsgrenze. Das ist dramatisch. 

Wir beschäftigen uns auf watson öfter mit dem Thema Armut. In vielen Gesprächen wurde uns gesagt, dass vor allem die Hartz-IV-Sanktionen als erniedrigend empfunden werden. 

Ich sehe das ähnlich. Gleichzeitig muss eben auch die Balance zwischen Fördern und Fordern hinbekommen werden. Eigentlich müssten die Jobcenter sich grundlegend wandeln und weniger zu einem Bestrafungsinstrument und mehr zu einem Beratungsinstrument werden.
Mehr Sozialarbeiter als wirklich Bürokraten sein, die mit Stempeln Entscheidungen treffen.
Die Sanktionen sind zum Teil schon sehr hart und es gibt Fälle, die nicht nachvollziehbar sind. Andererseits ist es eine schwierige Lage, da Fordern schon wichtig ist.

Kann es ein besseres Hartz IV geben?

Ja. Dazu müsste man Jobcenter in Beratungsgesellschaften umbauen. In den Niederlanden haben Städte gesagt, sie stellen Sozialarbeiter ein, die in Hartz-IV-Haushalte gehen, und denen mal drei, vier Monate jeden Tag von morgens bis abends helfen, mit den Kindern, mit dem alltäglichen Leben, damit diese Menschen wieder einen Rhythmus haben, auf die Beine kommen.

Das zweite ist Prävention. Also Weiterbildungen, Fortbildungen, neue Qualifizierungen ermöglichen. Und zwar, wenn die Menschen noch auf dem Arbeitsmarkt sind.

Wir haben zehntausende Menschen, die ohne Schulabschluss abgehen. Und ein großer Anteil derer, die keinen Schulabschluss haben, finden sich irgendwann in Hartz IV wieder. 
Das ist ein Problem mit Ansage, das man umgehen kann.
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